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muss und auch mein Anseilknopf einiges an Seil verbraucht. Bleibt nur zu hoffen, dass ich mit meinen zweiundsiebzig Kilo Lebendgewicht jene Seildehnung verursache, die diesen Verlust wettmacht. Mit solchen Überlegungen im Kopf nähere ich mich dem Entscheidungsort. Dort angekommen, stelle ich fest, dass ich Glück und Unglück zugleich habe. Die Seile reichen zwar knapp hin, doch habe ich in der Zwischenzeit jeglichen Kontakt zum Felsen verloren. Wegen des herausspringenden Daches über der Höhle hänge ich weit draußen in der Luft, ohne jede Verbindung zur Wand. So sehr ich mich auch strecke, der Fels verbleibt außerhalb meiner Reichweite. Schon liege ich horizontal in den Seilen und noch immer greifen meine Fingerspitzen ins Leere. Was soll ich nun tun? Der Pranter, so sage ich mir, wird meine Aktion bald als eine absolute Schnapsidee brandmarken, wenn ich nicht rasch eine Lösung finde. Da kommt mir ein Gedanke: Mein Klemmkeilentferner! Mit dem könnte ich meine Reichweite um entscheidende dreißig Zentimeter verlängern! Ich hole ihn vom Gurt, nehme ihn zwischen die Fingerspitzen, und finde tatsächlich Kontakt zum Felsen. Dann bringe ich meinen Körper in eine Pendelbewegung, die ich immer mehr steigere und erreiche so die Höhle. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Rasch schultere ich meinen Rucksack und mache mich zum zweiten Mal an die Schlüsselstelle. Obwohl ich nach ihrer Überwindung völlig außer Atem bin, gönne ich mir keine Pause, sondern stürme den senkrechten Riss eilfertig hinauf. Roland soll merken, dass ich Buße tue und mich bemühe, den Zeitverlust auszugleichen.

      Am Stand angekommen, mache ich mich sofort bereit Roland zu sichern, da er die nächste Seillänge in Angriff nimmt. Wie selten zuvor motiviere ich ihn mit aufbauenden Worten, drückt mich doch arg das Gewissen. Aber der Pranter ist ein Gentleman, der sich nichts mehr anmerken lässt. So finde ich bald wieder zu meinem seelischen Gleichgewicht zurück und kann mich dem atemberaubenden Abenteuer hingeben. Die Kletterei in diesem Bilderbuchriss gehört ja zum Spektakulärsten, was ich je erlebt habe. Es wäre jammerschade, könnte ich sie nicht genießen, weil meine Gedanken noch woanders festhängen. Daher hake ich ab, was gewesen ist, und widme mich nur mehr dem außerordentlichen Genuss, im senkrechten Fels höher steigen zu können. Nach hundert Metern ändert sich das Ambiente. Die Wand lehnt sich zurück, der Fels nimmt eine graue Färbung an und die Verschneidung verbreitert sich zu einem Kamin. Dieser Umstand beschleunigt unsere Kletterei. Zu beiden Seiten mit Händen und Füßen spreizend, arbeiten wir uns jetzt flott dem Ende der Tour entgegen. Noch ein letzter Aufschwung und wir entsteigen der eindrucksvollen Kerbe, die dem Torre di Valgrande sein unverwechselbares Gepräge gibt und uns kerzengerade in einer einzigen Linie vom Wandfuß auf den Gipfel geführt hat.

      Noch einmal tritt das Bild vom Turm vor mein geistiges Auge und lenkt meinen Blick auf das Wort Jesu im Lukasevangelium: Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? (Lk 14,28). Vertraut mit den archetypischen Bildern unserer Seele, ruft Jesus den Menschen auf, seinen je eigenen Turm zu bauen. Ich soll nicht auf die Türme der anderen sehen, um sie zu erreichen, sondern meinen ganz persönlichen Turm bauen, der nur für mich passt und mein Wesen ausdrückt, das einmalige Bild, das Gott sich nur von mir gemacht hat. Um diesen Turm bauen zu können, muss ich erst einmal die Mittel anschauen, die Gott mir zur Verfügung stellt, sagt uns Jesus mit seinem Bild vom Turm. Die Mittel, das ist meine Lebensgeschichte, das sind nicht nur meine Stärken, sondern auch meine Schwächen, nicht nur meine Fähigkeiten und Talente, sondern auch meine Verletzungen und Kränkungen, die mir das Leben geschlagen hat. Meine Geschichte ist das Material, mit dem ich bauen kann. Aus jedem Material kann ich einen schönen Turm bauen. Ich muss mich nur damit aussöhnen, dass mir eben gerade dieses Material zur Verfügung steht.

      Oft klagen Menschen, dass sie wegen ihrer schlechten Startbedingungen in der Kindheit keine brauchbaren Lebenschancen hätten. Doch ihre Geschichte ist das Kapital, mit dem sie arbeiten könnten. Gerade wenn meine Geschichte schwer war, steht mir ganz viel Kapital zur Verfügung. Denn das macht mich sensibel für andere, das gibt mir Lebenserfahrung, die fruchtbar werden kann für meine Mitmenschen. Doch nicht nur das Klagen über schlechte Startbedingungen kann unser Bauen am eigenen Turm im Leben behindern. Manch eine oder einer baut sich in seiner Fantasie Luftschlösser. Er hat zu hohe Vorstellungen, überzogene Idealbilder von sich. Er meint, er müsse etwas Fantastisches bauen, das jeder bewundern werde, etwas Außergewöhnliches leisten, das beeindruckt, vielleicht sogar Gott selbst beeindruckt. Aber wenn er dann ans Bauen geht, reichen die Mittel nicht. Er kommt nicht über das Fundament des aufgeblasenen Lebenshauses hinaus. Er hat seinen Turm zu groß gedacht.

      Es gibt aber auch Menschen, die ihren Turm zu klein konzipieren. Sie trauen sich nicht, die eigene Größe zuzulassen und entwerten sich selbst. So verstecken sie lieber ihren Turm und entschuldigen sich fast auf der Welt zu sein. Manche halten sich vor Gott immer für unwürdig und zweifeln an seiner Barmherzigkeit. Unser Turm ist auch dann zu klein konzipiert, wenn wir die Möglichkeiten der Hingabe, die in unseren Anlagen vorhanden sind, Gott vorenthalten und so seinem Ruf nicht nachkommen. Mit seinem anschaulichen Bild will uns Jesus ermutigen: Bau deinen eigenen Turm! Nimm dein Lebensmaterial aus Gottes Händen entgegen! Füg alle Steine ein, die dir als dein Lebensschicksal gegeben sind! Lass keinen aus, denn jeder Stein deiner Lebensgeschichte hat seine Bedeutung! Dann wird aus der Gestalt deines Turmes auch das einzigartige Bild strahlen, das Gott sich von dir gemacht hat, und du verwirklichst, wozu bereits antike Weisheit dich aufruft, wenn sie sagt: Werde, der du bist!

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