Скачать книгу

leicht.

      Doch wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht, dem typischen Brenta-Nebel. Noch sind wir kaum eine halbe Stunde unterwegs, da fällt schon von allen Seiten eine dicke Milchsuppe ein und nimmt uns jede Sicht. Das wirkt sich auf der einen Seite zwar beruhigend auf unsere Psyche aus, weil wir so nicht mehr sehen, über welchen Abgründen wir uns bewegen. Andererseits aber müssen wir befürchten die Orientierung zu verlieren. Entlang dieses Abstieges, der durch wegloses Gelände führt, haben Kletterer vor uns immer wieder aus losen Steinen kleine Türmchen gebaut. Wir sind ihnen für diese Orientierungshilfe unendlich dankbar. Andernfalls wären wir jetzt verloren. Wir sind ja zum ersten Mal hier oben, alles ist für uns neu und fremd. Dazu ist jetzt der Nebel so dicht geworden, dass wir nicht mehr von einem Steinmännchen zum anderen sehen. Immer wieder irren wir orientierungslos umher, bis wir auf eines der rettenden Zeichen stoßen. Die Kletterei ist zwar nicht schwierig, zweiter bis dritter Grad, erfordert aber höchste Konzentration. Wir tragen einen schweren Rucksack und steigen völlig ungesichert ab. Ein Fehltritt oder ein ausbrechender Griff hätte tödliche Folgen. Oft müssen wir steile Schneefelder queren. Wie froh sind wir da um unseren kleinen Pickel.

      Einmal meine ich schon, wir hätten uns definitiv verirrt. Trotz intensiver Suche finde ich keine Steinmandel mehr. Ich bin verzweifelt. Daniel ist nicht bei mir. Er sucht woanders. Wir bleiben aber im Rufkontakt, indem wir alle zehn Sekunden den Namen des anderen rufen. Nicht auszudenken, wenn man in dieser Situation auch noch den Partner verliert. Schon will ich Daniel gestehen, dass ich mir keinen Helfer mehr weiß, da stoße ich auf ein kleines Steinmal. Ich rufe voll Freude den Kameraden, der erleichtert zu mir kommt. Wir verfolgen die Spur. Doch sie führt abwärts, anstatt nach oben, dem Grat zu. Diese Spur kann unmöglich die richtige sein, sage ich zu Daniel. Wir müssen doch zuerst noch auf den Gipfel der Cima Tosa, bevor es abwärts geht. Mit meinem Verdacht sollte ich Recht behalten. Plötzlich endet die Spur vor einem Abgrund. Was nun? Wir überlegen. Vielleicht haben wir die Spur in die falsche Richtung verfolgt? Wir machen kehrt und gelangen tatsächlich nach einiger Zeit wieder auf den Grat. Die Spur war also von vorausschauenden Kameraden als Rettungsanker für Zeitgenossen entworfen worden, die wie wir im Nebel vom Grat abgekommen waren und nun unten irgendwo umherirrten. Um sie wieder ins Reich der Lebenden zurückzuführen, hat ein kluger Kopf diesen zu Stein gewordenen Faden der Ariadne8 gelegt.

      Inzwischen sind wir mit der Methode der Steinmandel-Navigation einigermaßen vertraut und kommen besser voran. Wir erreichen den Gipfel der Cima Tosa und atmen auf. Der gefährliche Teil des Abstiegs liegt hinter uns, der Rest kann höchstens noch mühsam werden. Und das wird er in unvorstellbarem Ausmaß. Der Weg will einfach kein Ende mehr nehmen. Wir müssen ja erst einmal von diesem Dreitausender herunter. Stunden um Stunden vergehen, ohne jede Rast. Es hätte auch keinen Sinn stehen zu bleiben, schießt es mir durch den Kopf, ich würde auf der Stelle einschlafen. Die heutige Tour ist unser erstes großes Unternehmen in diesem Sommer. Wir laufen unserer Form noch hinterher. Unsere Batterien sind daher nach sechzehn Stunden in ununterbrochenem Einsatz vollkommen leer. Doch wir müssen noch zwei Stunden durchhalten. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Unter uns sehen wir die Lichter vom Rifugio Pedrotti. Wie gerne würde ich jetzt dort einkehren und mich einfach nur irgendwo hinlegen. Aber das können wir Claudio, unserem zuvorkommenden Hüttenwirt am Rifugio Brentei, nicht antun. Er wartet auf uns und würde sich Sorgen machen, wenn wir heute Nacht überhaupt nicht mehr auftauchen.

      So schleppen wir uns weiter. Ich ertappe mich dabei, wie mir während des Gehens die Augen zufallen. Macht nichts, denke ich, bei der herrschenden Dunkelheit spielt es ohnehin keine Rolle, ob ich die Augen auf oder zu habe! Dann erinnere ich mich, wie mir mein Vater einmal erzählte, dass seine Kompanie im Zweiten Weltkrieg während des Rückzugs aus Russland an einem Tag oft bis zu hundert Kilometer zu Fuß zurücklegen musste, um dem Feind zu entkommen. Da habe er auch im Gehen geschlafen. Heute ergeht es mir ähnlich, denke ich und ergebe mich meinem Schicksal. Wie lange ich auf diese Weise halb schlafend gegangen bin, weiß ich nicht. Plötzlich schrecke ich auf. Ich höre Rufe: Angelo e Daniele, siete voi? (Engelbert und Daniel, seid ihr es?). Claudio hatte etwas wahrgenommen, voll Hoffnung, dass es die Austriaci sind, die sich da der Hütte nähern. Mit letzter Kraft antworten wir, froh die endlose Odyssee hinter uns gebracht zu haben. Claudio empfängt uns freudestrahlend, sagt, wie glücklich er sei, dass wir heil zurück sind, wirft den Gasherd an und kocht uns Spaghetti. Dann stellt er einen Liter Rotwein auf den Tisch. Die anderen Gäste sind alle schon zu Bett gegangen. Wir sind ihm unendlich dankbar für den wertvollen Freundschaftsdienst. Volle achtzehn Stunden waren wir ununterbrochen unterwegs. Ich kann es kaum fassen.

      Der honiggelbe Fels der Kleinen Zinne ist so etwas von appetitlich, dass ich ihn nicht genug betasten kann.

      Am nächsten Morgen hört und sieht man von uns nichts. Erst zum Mittagessen erscheinen wir im Gastraum. Wir fühlen uns wie gerädert. Zu mehr als essen, schlafen und Karten spielen sind wir nicht mehr fähig. Früh legen wir uns wieder nieder. Am folgenden Tag verschlechtert sich das Wetter und wir beschließen abzusteigen. Beim Auto angekommen, stellen wir mit Schrecken fest, dass wir vergessen haben, das Licht auszuschalten, als wir den Wagen hier vor drei Tagen abstellten. Jetzt ist die Batterie leer und das Auto lässt sich nicht mehr starten. Wir alarmieren den Pannendienst. Dieser kommt, italienischem Zeitgefühl entsprechend, erst nach zwei Stunden. Das bereitet uns aber kein großes Problem. Wir wissen die Zeit zu nützen, indem wir unser Kartenspiel vom Vortag fortsetzen. Das Glück ist mir in der Brenta offensichtlich hold, denn erstmals seit Jahren habe ich beim Schnapsen gegen Daniel den Funken einer Chance. So bin ich begierig darauf, mich mit ihm zu duellieren, bietet mir doch jedes Spiel auch die Gelegenheit etwas von der raffinierten Strategie des Großmeisters abzukupfern.

      Plötzlich fährt der Pannendienst vor. Man begutachtet unser Problem und lädt die Batterie auf. Dann warnt man uns davor, den Motor während der nächsten zwei Stunden abzustellen, weil die Batterie noch keine Kraft für einen Neustart habe. Wir brechen unser Kartenspiel ab und machen uns auf den Weg in die Sextner Dolomiten. Wir wollen morgen noch die Kleine Cassin auf der Piccolissima (Kleinste Zinne) klettern. Als wir in der Nähe von Trient einen Fahrerwechsel vollziehen, denken wir für einen Augenblick nicht mehr an das, wovor wir gewarnt wurden, stellen den Motor ab und – stehen zum zweiten Mal an diesem Tag mit unserem Gefährt. Wieder alarmieren wir den Pannendienst, wieder warten wir zwei Stunden und wieder vertreiben wir uns die Zeit mit Schnapsen. Dabei gelingt es mir Gran Maestro Daniele einige empfindliche Niederlagen beizubringen, was meinem Selbstbewusstsein als Spieler einen unglaublichen Auftrieb verleiht und die jahrelangen Demütigungen augenblicklich vergessen lässt. Damit uns dieselbe Sache nicht noch ein drittes Mal passiert, lassen wir uns, nachdem der Pannendienst angekommen ist, gleich eine neue Batterie einbauen. Dann fahren wir weiter und erreichen abends die Lavaredo-Hütte auf der Südseite der Drei Zinnen, wo uns Hüttenwirt Daniele Vecellio schon erwartet. Er kennt uns bereits von einigen Abenden des letzten Sommers, an denen wir auf die beiden Daniele mehrmals erfolgreich angestoßen haben.

      Der nächste Tag bringt Kaiserwetter. Schon der erste Blick aus dem Hüttenfenster lässt das Herz höher schlagen. Der mächtige Preußturm, wie die Piccolissima auch genannt wird, erstrahlt von der aufgehenden Sonne beleuchtet in überirdischem Glanz. Unwillkürlich muss ich an die poetischen Bilder vom Turm Davids und vom Elfenbeinernen Turm denken, mit denen die Lauretanische Litanei das marianische Heilsmysterium besingt. Und mit einem leichten Schmunzeln staune ich, wie leichtfüßig meine Gedanken von einer natürlichen Erscheinung in den Dolomiten den Weg in die Welt der Transzendenz finden. Offensichtlich ist uns in den Bergen der Himmel tatsächlich näher.

      Es dauert nicht lange, dann hängen wir nach einem guten Frühstück in den gelben Abstürzen der Piccolissima und genießen im Licht der strahlenden Sonne die atemberaubende Kletterei. Der honiggelbe Fels des Preußturms ist so etwas von appetitlich, dass ich ihn nicht genug betasten und befühlen kann. Und dazu habe ich angesichts der klettertechnischen Herausforderungen dieser Tour im unteren siebenten Grad Gelegenheit genug. Plötzlich bricht mir ein Griff aus, gerade in dem Augenblick, da ich mich mit den Füßen gegen den Fels stemme. Wie von einem Trampolin katapultiert, fliege ich rücklings

Скачать книгу