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wurden als Begründung angeführt. Die wahrscheinlich zutreffendste Antwort lautet: Weil sie da sind! Die Berge sind vorhanden und üben eine Faszination auf den Menschen aus. Dabei sind sie nicht das Einzige, was uns in unserer Welt den Atem raubt. Auch das Meer beispielsweise stellt ein Faszinosum dar. Als ich an einem Herbsttag als junger römischer Student zum ersten Mal in Ostia am Ufer des Tyrrhenischen Meeres stand, war ich sprachlos angesichts der Weite des Horizonts und der Urgewalt der donnernden Wasser.

      Ähnlich ergeht es mir auch im Gebirge. Im Angesicht eines Berges bin ich oft zutiefst beeindruckt von der Masse an Fels, die sich vor mir versammelt, einem Bollwerk an Beständigkeit gleich. Mich fasziniert, wie sich die Blöcke gegen den Himmel türmen, als wären sie von unsichtbarer Riesenhand aufeinandergeschlichtet worden. Es raubt mir den Atem, wenn ich eine Felsnadel wie den Campanile Basso in der Brenta sehe, bei dem die Wände zu allen Seiten senkrecht ins Kar hinunterfallen. Dann genieße ich es, meinen Blick vom Wandfuß zum Gipfel wandern zu lassen, wo die Spitze eine solchen Turmes förmlich das Firmament berührt. Erstmals auf Berge gestiegen bin ich tatsächlich einfach, weil sie da waren. Als Sohn des Hüttenwirtes vom Hochweißsteinhaus, einer Schutzhütte des Österreichischen Alpenvereins in den Karnischen Alpen, waren die Torkar- und Weißsteinspitzen und der Monte Peralba meine ersten unmittelbaren Nachbarn und mein nächstes landschaftliches Gegenüber. Schon als Kind war ich ihrer Faszination erlegen. Meine Eltern erzählten mir, dass ich im Alter von drei Jahren eines Tages morgens beim ersten Blick aus dem Fenster in unserem Haus in St. Lorenzen im Lesachtal, wo wir im Winter wohnten, voller Begeisterung ausrief: Inso Peralba! (Unser Peralba!). Die weiße Pracht unseres Hausberges hatte mich also auch im Tal noch in ihren Bann gezogen. Und so ließ ich nicht locker, bis meine Eltern sich bereit erklärten, mich einmal auf den Monte Peralba mitzunehmen. Eines schönen Julitages weckte mich mein Vater bereits um vier Uhr früh. Eine Stunde später brachen wir auf. Wie meine Eltern mir später erzählten, hätte ich den ganzen Aufstieg eigenständig bewältigt. So stand ich bereits als Dreijähriger erstmals auf dem Gipfel eines hohen Berges: meine erste alpine Tour. In der Nomenklatur modernen Kletterlateins würde die Bewertung lauten: Eins plus, free solo.

      Alles beginnt mit der Sehnsucht, sagt die Lyrikerin und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs. Das gilt auch für das Bergsteigen und Klettern. In uns Menschen schlummert die Sehnsucht aufzubrechen, die gewöhnliche Welt hinter uns zu lassen, neue und völlig unbekannte Räume zu betreten, einen Standort außerhalb des Alltäglichen einzunehmen und die Welt aus einer ganz anderen Perspektive wahrzunehmen. In dieser Sehnsucht liegt für mich das eigentliche und letzte Motiv alpinen Kletterns. Wir Menschen können uns einer Sache ganz hingeben und einen überdurchschnittlichen Einsatz leisten, wenn uns eine Sehnsucht motiviert und zieht. Diesen Zusammenhang hat Antoine de Saint-Exupéry in seinem posthum veröffentlichten Buch Die Stadt in der Wüste (Citadelle) schlüssig im bekannten Bild vom Schiffsbau zum Ausdruck gebracht: Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer. Auch dem Bergsteigen liegt diese große Sehnsucht zugrunde, die Sehnsucht nach Erweiterung des Bewusstseins durch ganz neue Erfahrungen. Ist das nicht gleichzeitig auch das Motiv, das uns auf dem Weg unserer Selbstwerdung vorantreibt?

      Rainer Maria Rilke hat in einem Gedicht in seinem Stunden-Buch der Vorstellung Ausdruck gegeben, dass Gott jedem Menschen, bevor er ihn in die Nacht dieser Welt hinausschickt, ein Wort mit auf den Weg gibt. Und dieses Wort lautet:

       Von deinen Sinnen hinausgesandt,

       geh bis an deiner Sehnsucht Rand;

       gib mir Gewand.

      Dem Menschen ist die Sehnsucht ins Herz gesenkt. Sie treibt ihn hinaus in diese Welt, um ihre Schönheit zu entdecken und in ihrer Schönheit und hinter allen Dingen Gott selbst zu suchen. Ein Weg, bis an unserer Sehnsucht Rand zu gehen, ist die Musik. Die wunderbare Musik von Franz Schubert geht bis an den Rand der Sehnsucht. Sie lässt die Sehnsucht beispielsweise in seiner Neunten Symphonie, die Große genannt, hörbar werden. Und nur wenn die Sehnsucht Ausdruck findet, ist sie heilsam. Wenn wir unsere Sehnsucht nicht hörbar oder sichtbar werden lassen, dann flüchtet sie sich in die Sucht.2

      In einem anderen Gedicht definiert Rilke die Sehnsucht:

       Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge

       und keine Heimat haben in der Zeit.

      Die Sehnsucht besteht darin, dass wir mitten im Trubel dieser Zeit leben, dass wir mitten im Gewoge unserer unruhigen Lebensfahrt eine Heimat finden. Wie kann das gelingen: wohnen mitten im Gewoge? Die Sehnsucht ist wie eine Heimat mitten im Gewoge. Wenn wir der Musik lauschen, können wir erahnen, dass wir jetzt mitten im Gewoge unseres Lebens, mitten in unseren Konflikten, in unseren Enttäuschungen, in unserer Sehnsucht wohnen können. Durch die Musik entsteht ein Raum der Geborgenheit, in dem wir wohnen können.

      Aber gleich nach dem schönen Wort vom Wohnen im Gewoge sagt Rilke, dass wir in der Zeit keine Heimat haben. In der Zeit können wir uns nicht einrichten. Wir können die Zeit nicht anhalten. Sie verweist uns auf eine jenseitige Heimat, auf eine Heimat, die erst dann entsteht, wenn hier Himmel und Erde zusammenfallen, Zeit und Ewigkeit. So ist die Sehnsucht der Anker, den Gott in unser Herz geworfen hat, um uns daran zu erinnern, dass unser Herz im Vorläufigen nicht zur Ruhe kommt. Aurelius Augustinus hat in seinen Bekenntnissen diese Erfahrung, dass Gott allein unsere unendliche Sehnsucht zu stillen vermag, auf die Formel gebracht: Du hast uns zu dir hin erschaffen, und unser Herz kommt nicht zur Ruhe, bis es ruht in dir.

      So gehört die Sehnsucht zu den Zauberworten für die Seele. Wir tragen sie in uns und gleichzeitig führt sie uns über uns selbst hinaus. Sie lässt die Dinge erblühen und kann zu einer Quelle werden, aus der wir leben. Fehlt sie uns, werden wir unzufrieden und energielos, wir hören auf, etwas zu suchen.3 Daher darf man Wünsche und Träume nicht zu lange von sich schieben. Man muss sie vielmehr tatkräftig anpacken. Das dachte ich mir, als mir mein Neffe Marian Guggenberger im Sommer 2009 den Vorschlag machte, mit ihm den Pilastro an der Tofana in den Ampezzaner Dolomiten zu klettern. Die Tour ist so berühmt, dass man von ihr nur mehr in der Kurzform spricht, ähnlich wie bei einer Operndiva, die dann auch nur mehr beispielsweise als Die Netrebko bezeichnet wird.

      So treffe ich mich mit Marian um 17 Uhr in Tassenbach bei Sillian in Osttirol. Er kommt vom Lesachtal, ich reise von Klagenfurt an. Marian ist ein aufstrebender junger Kletterer. Ich freue mich, dass jemand in unserer Nachfolgegeneration die Familientradition des Alpinkletterns weiterführt. Erstens einmal gehört das Klettern zum charakteristischen Spezifikum unseres Lesachtaler Clans. Zweitens steht es dem zukünftigen Hüttenwirt des Hochweißsteinhauses gut an, wenn er auch in dieser Sparte beheimatet ist. Drittens halte ich alpines Klettern für eine gute Lebensschule. Und schließlich habe ich, wenn Marian bei diesem Hobby bleibt, immer wieder einen fröhlichen und interessanten Kletterpartner an meiner Seite.

      Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung: Auf dem Weg nach oben sind am „Pilastro“ zwei herausspringende Dächer zu überwinden.

      Schon als Kind war Marian in Denken und Sprache auffallend kreativ und originell. Begabt mit einer überbordenden Fantasie, der es nie bunt genug zugehen konnte, entwickelte er Gedankengebäude, die mich zum Staunen brachten. Das waren natürlich hervorragende Grundvoraussetzungen für seine Lieblingsbeschäftigung: das Basteln und Werken. Angeregt von Opa und seiner Tischlerwerkstatt im Keller lebte das Kind am meisten auf, wenn es mit Hammer und Nägel bewaffnet aus hölzernen Abfallstücken in der Werkstatt etwas basteln oder bauen konnte. Noch vermochte Marian kaum Mama und Papa zu sagen, da war er bereits in der Lage, die spezifischen Geräusche der Geräte in Opas Werkstatt zu imitieren, von der Kreissäge angefangen über den Elektrobohrer bis hin zur Hobelmaschine. Dass seine Fantasie aber stets auch eine durchaus geerdete war, konnte man am Praxisbezug seiner originellen Kreationen ablesen. So baute er immer Dinge nach, die im Familienalltag vorkamen und Verwendung fanden: Tische, Bänke, Zäune, Aufzüge etc. Als er einmal einen Hubschrauber

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