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rein aus der Erinnerung, einen Hubschrauber. Noch heute hängt das Ding über der Theke im Gastzimmer des Hochweißsteinhauses und wird regelmäßig von den Gästen bestaunt.

      Dass er aber trotz blühender Fantasie tatsächlich Mögliches von Fantasterei zu unterscheiden vermochte, musste ich einmal zur Kenntnis nehmen, als er mir mit einer trocken hingeworfenen Bemerkung eine ganze Märchenwelt zerstörte, die für ihn aufzubauen ich mich berufen sah. Und das kam so: Marian war etwa sechs Jahre alt, da unternahm ich mit ihm vom Hochweißsteinhaus aus eine Wanderung Richtung Monte Avanza. Am Jägersattel stießen wir bei unserem Herumstreunen auf eine riesige Höhle, die ich selbst vorher noch nie wahrgenommen hatte. Durch einen schmalen Eingang betraten wir eine natürliche Kaverne, die so geräumig war, dass darin ein ganzes Haus Platz gefunden hätte. Im Plafond des gewaltigen Raumes klaffte ein riesiges Loch, durch das das Blau des Himmels schimmerte. Angeregt durch die Jurassic-Park-Manie, die damals die gesamte Gesellschaft erfasst hatte, meinte ich dem begeisterungsfähigen Kind hier an Ort und Stelle eine Materialisierung der Dinosaurier-Welt vorstellen zu können. Und so begann ich zu schwärmen: Schau, Marian, sagte ich, wir sind hier in einer echten Dino-Höhle. Hier hat der Tyrannosaurus Rex gelebt. Und schau, durch das große Loch, dort oben in der Decke, ist er herein- und hinausgeflogen und hat seine Kinder mit Futter versorgt. Marian nahm vorerst zu meiner – wie ich meinte – großartig gelungenen Inszenierung nicht Stellung. Dann aber blickte er mich mit seinen großen Augen mitleidsvoll an und sagte nur: Onkel Engelbert, komm auf den Teppich!

      Ja und eben mit diesem meinem originellen und eloquenten Neffen, der inzwischen schon ein stattlicher Mann Anfang zwanzig ist, bin ich jetzt unterwegs zur Tofana. Tofana di Rozes heißt die gewaltige Dolomiten-Erhebung mit genauem Namen. Ein Berg, wie er idealer vom Schöpfer nicht hätte ersonnen werden können. Wenn Johann Joachim Winckelmann, der Begründer der Kunstgeschichte, von der Laokoon-Gruppe im vatikanischen Cortile del Belvedere die Idealformen bildender Kunst abgeleitet hat, so könnte man aus der Tofana die Idealformen eines Berges herausdestillieren: Zerfurcht wie ein Wettergesicht, gewaltig wie eine Zyklopenmauer, stabil wie eine Pyramide und erhaben wie der Olymp – das ist die Tofana.

      Durch die Südwand dieses alpinen Monuments zieht ein gewaltiger Pfeiler von makelloser Schönheit. Gezählt ist er eigentlich der zweite Pfeiler von dreien. Aber weil er so markant ist und weil über ihn die berühmteste Tour des gesamten Massivs führt, wird er überhaupt nur Der Pfeiler genannt oder besser noch auf Italienisch: Il Pilastro. Berühmt ist die von Ettore Costantini und Romano Apollonio 1944 erstbegangene Tour, weil sie über zwei Dächer führt, die mitten in der senkrechten Wand eineinhalb Meter herausspringen. Die Überwindung eines solchen Hindernisses in der Vertikalen stellt an den Bizeps eine durchaus nicht zu unterschätzende Herausforderung dar, gilt es doch nahezu das gesamte Körpergewicht samt Rucksack hauptsächlich über die Hände nach oben zu hieven. Berühmt geworden ist die Tour auch noch als Wolfgang Güllich – das deutsche Klettergenie – Anfang der 1980er-Jahre die Qualität der neuen Klettergeneration unter Beweis stellte, indem er die Tour rotpunkt kletterte, das heißt ohne Zuhilfenahme der Haken als Fortbewegungsmittel. Und eben diese Tour hatte sich Marian gewünscht.

      Wir nächtigen im Rifugio Angelo Dibona, von wo aus wir in einer Dreiviertelstunde am Einstieg sind. Das Wetter ist weder gut noch schlecht, was auf einem Berg, dessen Gipfel zu den Dreitausendern gehört, bedeutet, dass man sich warm anziehen darf. Wir verabreden, dass Marian die ersten Seillängen führt und ich die folgenden. Daher brauche ich mich vorerst einmal nicht anzustrengen und kann mich beruhigt aufwärmen, indem ich hinter Marian herklettere. Wie ein bunter Klecks markiert sein farbiges Outfit die schwarze Wand und frech flattert seine blonde Mähne im Wind, während er die erste Seillänge in Arbeit nimmt. Dann quert er über steile Platten nach rechts, bis er den gewaltigen Riss erreicht hat, der die ganze Wand durchzieht und ein Höhersteigen in diesem eindrucksvollen Plattenmeer ermöglicht. Nach einigen weiteren Seillängen haben wir das erste Felsband erreicht. Solche Bänder, die oft die gesamte Wand quer durchziehen, sind typisch für die Dolomiten. Sie sind anlässlich einer Wachstumspause der Korallen entstanden, die vor 250 Millionen Jahren die heutigen Dolomitenberge geformt haben. Dem Kletterer sind die Felsbänder eine willkommene Gelegenheit für eine kurze Rast, kann man doch endlich wieder einmal auf beiden Füßen stehen.

      Nun bin ich an der Reihe zu führen. Wer beim alpinen Klettern die Seilschaft anführt, trägt ein höheres Maß an Verantwortung: Der Vorsteiger muss den richtigen Weg finden und ist auch einem höheren Risiko ausgesetzt, da anlässlich eines Sturzes seine Fallhöhe doppelt so hoch wird wie die Distanz bis zur nächsten Sicherung. Und das kann dann bald einmal so viel sein, dass man sich verletzt. Daher sollte es in einer alpinen Route nie zu einem Sturz kommen. Im Nachstieg hingegen beschränkt sich die Fallhöhe bei einem Ausrutscher mehr oder weniger auf die Dehnung des Seiles, was – außer in einem Quergang – zu keiner Verletzung führt. Wenn ich nun den Vorstieg übernehme, bin ich mir des vorgegebenen Risikos bewusst. Die Farbe der Wand hat inzwischen von Grau auf Gelb gewechselt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass es in die Vertikale geht. Überhängender Fels wird nämlich vom Regen nicht mehr benetzt. Daher können sich dort auch keine Algen halten, die für die graue Färbung des ursprünglich gelben Dolomitgesteins verantwortlich sind. Wenn ich also gelben Fels unter meine Finger nehme, weiß ich, was mir blüht.

      Achtzig Meter klettere ich so hinauf. Dann mache ich unter dem ersten Dach Stand. Eigentlich kann von Stand keine Rede sein, denn ich hänge vollkommen in der Luft. Doch das macht mir jetzt nichts mehr aus. Der Verankerung vertraue ich blind und an die Ausgesetztheit habe ich mich bereits gewöhnt. Marian kann nachkommen. In der folgenden Seillänge muss er gut auf mich aufpassen, wenn ich mich an die Überwindung des ersten Daches mache. Ich habe zwar nicht die Absicht zu fliegen und auf diese Weise seine Sicherungskünste zu testen, aber man kann nie wissen. Trotzdem darf er mich auch nicht zu ängstlich sichern. Denn damit würde er mich in meinem Bewegungsablauf behindern und mein Fortkommen hemmen. Es ist wie im Leben, schießt es mir durch den Kopf, wir brauchen Bindung, aber gleichzeitig auch die nötige Freiheit, um uns entwickeln zu können.

      Die „Via Costantini-Apollonio“ am „Pilastro“ wartet mit einer Spezialität auf: Ein Dach springt über mir fast zwei Meter aus der Vertikale und stellt sich meinem Kletterfluss frech in den Weg.

      Was das Sichern anbelangt, so ist auf Marian absolut Verlass! Als einer, der auch handwerklich begabt ist, bringt er alles mit, was man für ein gutes Handling des Seils braucht: feine Motorik, ein verlässliches Auge und alpine Intelligenz. Während er mir Seil ausgibt, arbeite ich mich mit den Füßen so weit an das herausspringende Dach heran, bis mein Helm daran ansteht. Dann suche ich im Felsspalt, den das Dach mit der Wand bildet, einen Griff für die linke Hand. Ich finde einen Untergriff, kann mich stabilisieren und lege mit der rechten Hand das Seil in die Sicherung über mir. Mit derselben Hand greife ich dann in den schmalen Riss hinein, der das Dach spaltet, und finde dort einen guten Griff. Jetzt muss ich den linken Fuß möglichst hoch in die Wand stellen und mit der zweiten Hand versuchen die Schlinge zu ergreifen, die ich über dem Dach wahrnehme. Ich strecke mich bis zum Äußersten. Endlich kann ich sie fassen. Nun befinde ich mich in einer Zerreißprobe. Die Hände müssen der Beanspruchung standhalten und der Fuß darf mir auf keinen Fall abrutschen, dann kann ich mich mit einem kräftigen Zug aus der ärgsten Bedrängnis befreien. Andernfalls? Daran zu denken habe ich im Moment keine Energie mehr.

      Mein Atem geht keuchend, ich weiß, ich muss die Stelle bald hinter mich bringen, die Kräfte gehen zu Ende. So beiße ich die Zähne zusammen und beeile mich. Mit noch zwei weiteren Zügen komme ich unter dem Dach heraus und steige in die Senkrechte, wo sich der Körperschwerpunkt wohltuend von den Händen wieder auf die Füße verlagert. Die erste große Herausforderung liegt hinter mir und ich gewähre mir eine Verschnaufpause. Dann klettere ich rund zehn Meter über eine senkrechte Wandstelle hinauf, bis ich den nächsten Stand erreiche. Marian kann nun nachkommen. Für einen durchtrainierten Jugendlichen, wie er es ist, sind solche athletischen Kletterstellen eine ideale Herausforderung. Er bewährt sich auch prächtig und ist rasch bei mir. Beim zweiten Dach bin ich schon in Übung und so stehen wir nach einer weiteren halben Stunde schon auf dem oberen breiten Ringband. Jetzt rasten

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