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nimmt man sie als Krankheit oder Schmerz wahr. Gesundheit merkt man nicht, Krankheit wird spürbar.

      Ordnung und Spielraum, Ordnung und Zufall, Ordnung und Freiheit gehen Hand in Hand. Gerade dieses Zusammen von Ordnung und Spielraum, Ordnung und Zufall macht das Lebendige aus. Gäbe es die Ordnung nicht und herrschte nur der Zufall, gäbe es den Zufall nicht mehr. Denn gäbe es nur Zufall, wäre der Zufall aufgehoben. Zufall kann es nur im Kontext von Ordnung geben. Außerdem würde im Kontext des dauernden Zufalls kein Organismus mehr funktionieren. Das Herz muss immer schlagen und das Auge immer sehen. Es darf nicht plötzlich anfangen zu hören. Gäbe es andererseits innerhalb der Ordnung nicht den Spielraum, die Veränderbarkeit und die „Freiheit“, gäbe es keine Weiterentwicklung. Alles wäre starr festgelegt. Beides also ist notwendig: Ordnung und Freiraum. Noch einmal anders: Wäre alles zufällig und beliebig, käme die Ordnung durcheinander und der Mensch hätte nie entstehen können. Eine derartige Unordnung zeigt sich zum Beispiel bei Krebserkrankungen.2 Bei diesen Erkrankungen ist die Ordnung gestört und Zellen aus der Lunge tauchen plötzlich im Gehirn auf. Da gehören sie nicht hin. Diese Zellen nennt man Metastasen. Eine solche Unordnung ist mit dem Leben nicht vereinbar.

      Auch im Kosmos herrscht diese Ordnung: die Sonne geht jeden Morgen im Osten auf und nicht mal im Süden, mal im Westen oder mal im Norden. (Wir wissen längst, dass die Sonne überhaupt nicht aufgeht, sondern dass die Erde sich dreht und es so aussieht, als ginge die Sonne auf.) Ginge sie morgen im Süden und übermorgen im Westen auf, hörte die Welt auf zu existieren. So gibt es eine Ordnung im Kosmos, in der Natur, im Organismus, im Inneren des Menschen, auch im menschlichen Geist. Dort ist es die Ordnung der Logik und des logischen Denkens, das sich nicht in Widersprüchen bewegen darf. So ist die Ordnung auf jeder Ebene eine andere und dennoch durchzieht sie das ganze Sein. Sie besteht im Kosmos in der Ordnung der Planeten und Sterne, im Lebendigen in einem ständigen Wechselwirkungsgeschehen zur Aufrechterhaltung eines dynamischen Gleichgewichtes im Organismus und im menschlichen Geist in der Logik des Denkens und der Ausrichtung auf den logos.

      Die Ordnung ist im biologisch Lebendigen vorgegeben und muss gleichzeitig im Lebensvollzug immer wieder eingeholt werden. Das erfordert Aufwand und „Arbeit“. Das Tote neigt zur je größeren Unordnung, wie die Physik herausgearbeitet hat. Diese Tendenz zur Unordnung wird als Entropie bezeichnet. Im Lebendigen muss dieser Neigung zur Unordnung durch Energiezufuhr immer wieder entgegengewirkt werden. Daher spricht man auch von negativer Entropie im Lebendigen.3 Diese Ordnung und die Tendenz zur Unordnung gibt es in anderer Weise auch im Seelischen und im Geistigen. Auch dort neigt das „Tote“ im übertragenen Sinn zu Unordnung, Zerstreuung und Desintegration. Dieser Tendenz zur seelisch-geistigen Zerstreuung und Desintegration muss ebenfalls durch je neue Integrationsarbeit entgegengearbeitet werden.

      Im Griechischen wird die Kraft zur Desintegration und Zerstreuung mit dem Begriff des Dia-bolos belegt (dia-bolos kommt von dia-ballein: zerstreuen, auseinanderreißen). Diesem Begriff steht jener des Sym-bols (von sym-ballein zusammenwerfen) gegenüber. Er weist auf die integrierenden Momente des Lebens hin. Es wird im Laufe des Buches zu zeigen sein, wie die desintegrierenden Kräfte im Menschen je neu zusammengehalten und integriert werden können und was diese Integrationsarbeit mit dem Begriff des Symbols zu tun hat.

      Das menschliche Leben hat viele Dimensionen. Das ist eine triviale Aussage. Spannend aber wird die Frage, wie diese Dimensionen sich gegenseitig im Leben durchdringen. Wissenschaftstheoretisch müssen die verschiedenen Ebenen von Naturwissenschaft, Medizin, Psychologie, Soziologie, Philosophie und Theologie genau auseinandergehalten4 werden und greifen doch im konkreten Leben ineinander. Die Naturwissenschaften versuchen, die Welt und die Einzeldinge in ihrer Ausdehnung und Messbarkeit zu erfassen (res extensa bei René Descartes), die Geisteswissenschaften befassen sich mit dem Nicht-Ausgedehnten und Nicht-Messbaren des menschlichen Geistes (res cogitans). Diese Sichtweise des Descartes impliziert zwar einen Leib-Seele-Dualismus in der Unterscheidung von Geist und Materie, aber diese Unterscheidung ist zunächst geeignet, um die unterschiedlichen Perspektiven aufzuzeigen. Sie wachsen heute mehr und mehr zusammen.

      Es gibt Phänomene im Leben, die sich der Messbarkeit und Wägbarkeit entziehen. Es wäre unsinnig, das Gewicht oder die Zentimeter von Gedanken oder von Liebe und Treue bestimmen zu wollen. Im menschlichen Lebensvollzug existiert beides zugleich: die messbaren physiologischen Veränderungen im Organismus (Zellveränderungen, Blutwerte, Hormone) und die nichtmessbaren Phänomene wie Liebe, Treue, Vertrauen, Wahrheit. Außerdem gibt es noch die emotionale Gefühlsebene, die von der Psychologie betrachtet wird. Alle Dimensionen sind im Menschen gleichzeitig „da“, sie dürfen wissenschaftlich gesehen nicht vermischt, im Lebensvollzug aber auch nicht von einander getrennt werden. Auch hier gilt: unvermischt und ungetrennt.

      Eine naturwissenschaftlich geprägte Welt geht oft davon aus, dass nur das existent ist, was messbar ist und übersieht dabei, dass die größere Zahl von alltäglichen Vollzügen des menschlichen Miteinanders gerade nicht messbar ist. Es sind dies die geistigen Vollzüge und die täglichen personalen Begegnungen. Jeder Gedanke, jedes Versprechen, jede Liebe und Treue sind in dem Sinne zunächst nicht messbar. Zwar versucht die Hirnphysiologie immer wieder, auch den Vollzug des Denkens messbar zu machen und die hirnphysiologischen Veränderungen beim Denken und Fühlen darzustellen. Aber mit diesen Messungen erfasst man nur die „Außenseite“ eines Gedankens oder eines Gefühls, nicht aber den Gedanken, das Gefühl oder das Phänomen der Liebe selbst. Das Messbare ist die objektive Sicht auf ein Phänomen (auch als die „Dritte-Person-Perspektive“ bezeichnet), während das subjektive Erleben und der subjektive Vollzug („Erste-Person-Perspektive) kaum messbar ist.

      So sehr es hilfreich ist, hirnphysiologische Veränderungen im Gehirn liebender Menschen, meditierender Mönche oder betender Menschen aufzuzeichnen, so wenig erfasst man doch die Liebe als Liebe oder das Gebet als Gebet. Man kann auch bestimmte Konfliktsituationen im Gehirn darstellen, aber damit ist der Konflikt noch nicht als Konflikt in seiner existentiellen Bedeutung für zwei Menschen begriffen. Man erfasst nur eine Korrelation zwischen Gedanken und hirnphysiologischen Veränderungen, nur die äußeren Wirkungen eines inneren Geschehens. Vor allem kann man nicht sagen – wie manche Hirnphysiologen es tun – dass die Veränderungen im Gehirn die Ursache für den Gedanken, der Konflikt, die Tat, der Liebe sind. Man kann nur von einer Korrelation zwischen Gedanken und Veränderungen im Gehirn sprechen.5

      Will man bis hierher eine Zusammenschau der verschiedenen wissenschaftlichen Zugänge zum Menschen (Naturwissenschaften, Psychologie, Soziologie, Medizin, Philosophie, Theologie) im Blick auf den konkreten Lebensvollzug des Menschen wagen, kann man es so sehen: Der Mensch hat naturwissenschaftliche Grundlagen (z. B. Genetik, Epigenetik, Geschlecht), er hat psychische Prägungen durch Eltern und Vorfahren (Beziehung zu den Eltern, Ängste, Konflikte) und er hat einen menschlichen Geist (er ist ein Geistwesen), der sich philosophisch und theologisch mit Fragen nach dem Sinn des Lebens und den letzten Gründen des Seins auseinandersetzen kann. Die natürlichen Vorgaben sind dem Menschen mitgegeben, sein Leben ist ihm als Aufgabe aufgegeben. Im Leben gibt es – wissenschaftlich gesehen – die naturwissenschaftlich messbare und verallgemeinerbare Dimension im Menschen, die psychisch individuell geprägte, die mit anderen individuellen Prägungen verglichen werden kann und die geistige, die im Lebensvollzug etwas Einmaliges und Unvergleichbares enthält: Jeder Mensch hat seine eigenen Gedanken, seine individuelle Lebensführung, seinen eigenen Namen, seine Identität und Berufung, seine je individuelle Krankheit und letztlich stirbt er auch seinen eigenen Tod. Niemand kann ihn dabei vertreten.

      Allerdings vermischen sich gerade heutzutage die Ebenen des Verallgemeinerbaren und des Individuellen immer mehr. Gerade die naturwissenschaftlichen Forschungen im Bereich der Medizin, die eigentlich alles zu verallgemeinern suchen, nehmen gegenwärtig immer mehr das Individuelle in den Blick. Sie erkennen, dass jeder Mensch ein ganz individuelles Genom hat und zum Beispiel Arzneimittel wegen dieser Unterschiedlichkeit in jedem Menschen anders wirken. Das Fachgebiet der Pharmacogenomics befasst sich mit diesem Einmaligen. Man spricht immer mehr von individualisierter Medizin, die sich mit dem Individuellen im Blick auf die genetische Ausstattung befasst. Philosophisch-theologisch umfassender muss man von einer personalisierten Medizin sprechen, die sich dem ganzen Menschen mit seiner Innenwelt, Umwelt und seiner seelisch-geistigen

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