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das nicht. Wenn man vergleicht, welche Mühe sich Hegel gab, den Begriff des Geistes näher zu bestimmen (man kann sein gesamtes Werk als eine Explikation dieses Grundbegriffs ansehen), dann ist die Sprödigkeit der Materialisten doch ein recht erstaunliches Phänomen. Natürlich unterstellen die meisten von ihnen, dass die Physik schon wisse, was Materie sei und da doch niemand die Ergebnisse dieser gründlichsten aller Wissenschaften in Frage stellen werde, brauche man sich weiter um eine angemessene Definition des Begriffs der Materie nicht zu kümmern.

      Es ist aber so, dass dieser Begriff der Materie in keiner einzigen physikalischen Theorie vorkommt. Es verhält sich damit so ähnlich wie mit dem Begriff der Kausalität, der später behandelt werden soll. In beiden Fällen wird sich zeigen, dass diese Zentralbegriffe Interpretamente unserer praktischen Lebenswelt sind, die wir von dort aus in die Wissenschaft hineinprojizieren, um sie uns verständlich zu machen. Aber dann hat der Materialismus ein Problem, denn er macht präzise von dem Gebrauch, was er vorgibt, hinter sich gelassen zu haben, denn die Ontologie der Lebenswelt ist nicht materialistisch. Sie ist natürlich auch nicht spiritualistisch, sondern wir erfahren uns im Alltag als wenig durchschaubare Amphibien zwischen Geist und Materie, irgendwie beides, ohne dass allzu klar wäre, wie es zusammenhängt.

      Einer der einflussreichsten Materialisten heute ist der Physiker und Philosoph Mario Bunge. In einem Buch zum „wissenschaftlichen Materialismus“ definiert er: „Matter is, what science studies.“ Das ist ungefähr so, als wollte ich wissen, was ein Pferd sei und erhielte zur Antwort: „Pferd ist, worauf der Reiter sitzt.“ Dies ist eine Art negativer Definition, die in der Wissenschaft eigentlich verboten ist. Wenn ich vom Menschen sage, er sei kein Tier, dann weiß ich noch immer nicht, was er wirklich ist, denn auch ein Eisblock oder eine Wolke sind keine Tiere. Doch die Verlegenheit Mario Bunges verweist auf ein Grundproblem, das den Materialismus bis heute belastet. Wir hatten oben gesehen, dass der heute so verbreitete nichtreduktionistische Physikalismus die materialistisch-monistische Einheit hinter den Phänomenen nur unterstellt, aber nicht aufzeigt. Das macht sich bei Bunge so bemerkbar, dass er von „matter, inanimate or alive“ oder von „thinking and social matter“ spricht.12 Was ist denn „soziale“ oder „denkende Materie“ und könnten wir dann nicht auch von einer fröhlichen, friedfertigen oder ängstlichen Materie sprechen und wäre dann nicht schon rein sprachlich dieser materialistische Monismus widerlegt?

      Um nun zu klären, welchen Materiebegriff die Physik hat oder ob sie überhaupt einen hat, ist es nützlich, auf Kepler und Newton zurückzugreifen. Bei ihnen findet sich eine Weichenstellung, die bis heute nachwirkt und die den physikalischen Materiebegriff in die Aporie hineintreibt. Kepler steht auf halbem Wege zwischen einem metaphysischen Synkretismus und der modernen Wissenschaft. Seine Schriften sind eine schwer durchschaubare Mischung aus Neoplatonismus, Aristotelismus und einer auf Beobachtung beruhenden Quantifizierung und Mathematisierung. Diese Mischung war derart, dass sie ein Galilei nicht ertragen konnte. Obwohl er glücklich war, einen Mitstreiter in Sachen Heliozentrismus gefunden zu haben, konnte er es doch nicht über sich bringen, die Originaltexte Keplers zu lesen. Das war ihm alles zu verworren metaphysisch, zu wenig erfahrungsgesättigt. Tatsächlich ist Kepler noch zur Hälfte in einer qualitativen Naturphilosophie befangen, die Galilei weit hinter sich gelassen hatte. Bei Aristoteles hatte Kepler den Gegensatz von Form und Materie vorgefunden, aber nach und nach durch den der Kraft und des Stoffes ersetzt. Dieser Übergang ist philosophisch höchst bedeutsam, denn Form war etwas Geistiges, das nach Aristoteles aber nur in der Materie realisiert werden kann, also nicht abgetrennt wie bei Plato. Das heißt: Wir haben bei Aristoteles immer eine Verschränkung von Geist und Materie vor uns. Ersetzt man nun die Begriffe Form und Materie durch Kraft und Stoff, dann entsteht eine Ausweglosigkeit, weil nun Kraft etwas Geistiges sein müsste, da sie nicht mehr zum Stoff gerechnet werden kann. Aber eigentlich ist das verkehrt, denn physikalisch gesehen gehören auch die Kräfte zur Materie. Es ist eben nicht sinnvoll, einen einzelnen physikalischen Begriff mit der Materie zu identifizieren, weil sonst der Rest in den Bereich des Geistigen verschoben wird, wo er nicht hingehört.

      Das heißt also: Das Gegensatzpaar Kraft und Stoff hat mit dem älteren von Form und Materie überhaupt nichts mehr zu tun, es ist ein rein historischer Zusammenhang ohne systematische Relevanz. Gleichwohl wird sich zeigen, dass Physiker bis heute Gebrauch machen vom alten Form-Materie-Gegensatz, um sich ihre Ergebnisse hermeneutisch anzuverwandeln. Aber dann treiben sie Metaphysik und bewegen sich nicht mehr im gesicherten Terrain wissenschaftlicher Erkenntnis. Diese Überblendung wird besonders deutlich bei Newton, wie schon in der Einleitung zu diesem Kapitel deutlich gemacht wurde.

      Wer heute Physik studiert, wird sofort mit den Newton’schen Axiomen und dem Gravitationsgesetz vertraut gemacht und lernt dann, mit Hilfe von Rand- und Anfangsbedingungen aus diesen Grundprinzipien mathematisch die besonderen Fälle zu deduzieren, die dadurch erklärt werden. All dies ist ziemlich abstrakt und die Physikprofessoren bestehen auch immer darauf, man möge sich doch nichts Anschauliches darunter vorstellen, denn dies führe uns in die Irre. Sie haben durchaus Recht, was das Innerwissenschaftliche anbelangt. Derart geschult und gewitzt ist es ein Schock, Newtons Originalabhandlung zu lesen. Dort kommen nämlich nur verstreut mathematische Formeln vor! Newton beschreibt Vieles in der ganz gewöhnlichen Alltagssprache und fügt nur da und dort mathematische Ausdrücke hinzu.

      Das hat Methode: Newton war offenkundig der Meinung, dass seine Physik unmittelbar die Natur beschreibt, wie sie uns im Alltag umgibt. Er differenziert also nicht zwischen Wissenschaft und Lebenswelt. Dies erklärt übrigens auch eine Eigenschaft der Kantischen Philosophie, die viele Leser irritiert hat: Auch bei Kant gibt es keine Differenz zwischen Wissenschaft und Lebenswelt. Kant folgt hierin ganz einfach seinem Lehrer Newton. Aber wenn ein so kluger Philosoph dieses Problem nicht gesehen hat, dann darf man sich nicht wundern, dass sich die Standardauffassung allgemein durchsetzte, die klassische Physik Newtons beschriebe unsere Lebenswelt, obwohl es in unserer Lebenswelt keine Idealisierungen wie Punktmassen noch Momentanbeschleunigungen, Trägheitsbewegungen oder perfekt reibungsfreie schiefe Ebenen gibt.

      Es wurde schon oben darauf hingewiesen, dass diese Identifikation von Wissenschaft und Lebenswelt nicht stimmen kann, denn wenn man z. B. mit Newton Kräfte als Ursachen ansieht, dann entsteht, wie gesagt, die Paradoxie, dass die Newton’schen Gleichungen symmetrisch sind, während die Kausalrelation asymmetrisch ist. Es handelt sich also um einen dieser unmotivierten Sprünge von der Wissenschaft zur Lebenswelt. Ein ähnlicher Fall liegt vor, wenn man mit Newton die Masse m als Platzhalter der Materie deutet. Die Größe m ist nicht die Materie, sondern wie Newton manchmal zu Recht sagt, die „quantitas materiae“, also eine bloße Eigenschaft der Materie, nicht sie selbst. Gerade dieses Beispiel ist wichtig im Zusammenhang des vorliegenden Unterkapitels über das Materieprinzip. Es gibt nämlich viele Physiker und Wissenschaftstheoretiker, die bis heute einfach Masse = Materie setzen. Aber damit verwechseln sie eine Eigenschaft mit dem, was ihr zugrunde liegt und sie wären in der Konsequenz gezwungen, andere physikalische Größen, wie Kraft oder Energie für etwas Geistiges zu halten. Trotzdem hat es diese merkwürdige Auffassung bis in die Lexika geschafft, wie z. B. in den großen Brockhaus und man findet diesen absurden Sprachgebrauch bis heute unter vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftstheoretikern. Dies heißt, dass die Physik überhaupt nur Eigenschaften der Materie erforscht, sie selbst, als den Träger dieser Eigenschaften, jedoch nie direkt zu Gesicht bekommt. Die Physik weiß nicht, was Materie ist. Damit stimmt überein, dass der Physiker seine Ergebnisse nicht in der natürlichen, sondern in einer mathematischen Sprache ausdrückt, die relational ist. Die natürliche Sprache operiert mit dem Ding-Eigenschafts-Schema. Das Ding ist der Träger von Eigenschaften, was wir mit Hilfe des prädikativen Urteils in der natürlichen Sprache ausdrücken, wie etwa: „Dieser Tisch ist braun.“ Hier ist der Tisch Träger der Eigenschaft, braun zu sein. Auf diese Weise hat schon Aristoteles seinen Substanzbegriff gewonnen. Solche einfachen, prädikativen Urteile sind wir derart gewohnt, dass wir im Ernst nicht damit rechnen, dass es auch andere Sprachen gibt, die nicht so funktionieren, wie z. B. die mathematische.

      Es gibt in der Literatur viele Überblendungen von mathematischer und natürlicher Sprache, die bei näherem Zusehen ganz unmotiviert sind. Man hat etwa gesagt, dass die Masse-Energie-Äquivalenz Einsteins (E = mc2) Folgendes besage: Die Masse m (die man dann mit der Materie gleichsetzt),

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