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dem von Esfeld herausgegebenen Band fehlen übrigens idealistische Physikdeutungen. In der Philosophie herrscht heute eine negative Voreingenommenheit gegenüber dem Idealismus. Es gab aber große Physiker wie Planck, Einstein, Heisenberg und Pauli, oder Philosophen wie von Weizsäcker, die die Physik idealistisch gedeutet haben. Im Grunde machten sie dasselbe wie die Strukturalisten: sie ontologisierten die Formeln der Physik direkt, jetzt aber im Sinn zugrundeliegender Platonischer Ideen. Von Weizsäcker hat vergeblich versucht, daraus ein philosophisches System zu machen.15 Das musste aus demselben Grunde misslingen, aus dem auch die sonstigen Versuche gescheitert sind, aus der Physik allein eine Ontologie herzuleiten. Der relationale Charakter dieser Wissenschaft hindert, dass wir in diesem Bereich ein platonisches anhypotheton, ein voraussetzungsloses Erstes finden können, das allem zugrunde liegt. An sich hat Plato dieses Problem schon vor über 2000 Jahren gesehen, wenn er das Mathematische aufgrund dieses seines hypothetischen Charakters nicht mit zu den Ideen rechnete. Doch zeigt bereits die Möglichkeit einer idealistischen Physikinterpretation, dass der Materialismus keine zwingende Folge aus der Physik sein kann. Das sollte den Materialisten mehr zu denken geben, als tatsächlich der Fall ist.

      Es scheint nun, dass das Problem, das sich hier auftut, schon vor 100 Jahren im Wiener Kreis beschrieben wurde. Rudolf Carnap vertritt in seinem ersten großen Werk, dem „Logischen Aufbau der Welt“ eine These, die dem Strukturalismus ähnelt. Er nimmt die Physik ganz ernst und unterstellt, dass sie kein substanzielles Verhältnis zu den Gegenständen ermöglicht. Was wir erkennen, sind immer nur strukturelle Eigenschaften der Gegenstände, niemals diese selbst: „Die Wissenschaft muss rein objektiv sein und jede wissenschaftliche Aussage kann in eine reine Strukturaussage umgeformt werden: Denn die Wissenschaft will vom Objektiven sprechen; alles jedoch, was nicht zur Struktur, sondern zum Materialen gehört, alles, was konkret aufgewiesen wird, ist letzten Endes subjektiv.“16 Das heißt: Für Carnap sind Fragen nach dem Wesen, nach dem Zugrundeliegenden usw. sinnlos. Sie sind in seinen Augen metaphysisch im pejorativen Sinn. Er nennt sie „externe Fragen“, wozu auch Fragen nach Realismus, Idealismus, Materialismus, Spiritualismus usw. gehören. Das würde mit dem hier Gesagten übereinstimmen. Von der Physik aus erkennen wir nur Strukturen und diese sind indifferent zur Unterscheidung zwischen Geist und Materie. Das heißt aber sofort, dass wir von dieser Wissenschaft her keine Aussagen über die Materie als das allem Zugrundeliegende machen können. Leider hat Carnap später diese konsequente Position aufgegeben und sich zu einem weltanschaulichen Physikalismus bekannt, ohne uns die Gründe zu nennen, die dazu geführt haben. Aber in der Regel gibt es keine solchen Gründe. Der Materialismus ist ein Glaube, keine begründbare Theorie.

      Zurück zur heutigen Diskussion um die Philosophie der Physik, wie sie Esfeld zusammengestellt hat: Es fällt auf, dass dieselben Autoren, die nicht imstande sind, ein ontologisches Substrat der Physik zu identifizieren, das allen Kollegen einleuchten würde, verschiedentlich dennoch von Materie reden. Überprüft man diese Rede, dann zeigt sich, dass sie nicht weniger vielfältig ausfällt, sich aber auf einen ganz anderen Aspekt der physikalischen Theorien bezieht. Diese Rede steht offenkundig in der Tradition seit Newton, bestimmte einzelne Größen, wie etwa die Masse, mit der Materie zu identifizieren, wodurch die genannte Paradoxie entsteht, dass dann alle anderen Entitäten, wie Kräfte, Energien, Wellen, Felder etwas Geistiges sein müssten, weil sie ja nichts Materielles mehr sein dürften. Andere Autoren setzen nicht etwa Materie = Masse, sondern sie rechnen Felder mit zur Materie und sprechen kurz von Materiefeldern, wodurch wiederum ein ganz neuer Materiebegriff entsteht. Andererseits haben Physiker wie Louis de Broglie, Richard Feynman und Hermann Haken Bücher geschrieben mit dem Titel „Licht und Materie“. Dieser Sprachgebrauch ist ebenfalls sehr verbreitet. Er liegt aber wiederum quer zu allem, was bisher gesagt wurde und bringt wiederum einen ganz anderen Materiebegriff zur Geltung. Dann gibt es aber auch welche, die alles, was physikalisch bestimmbar ist, mit der Materie identifizieren und dieser allein das Neutrino entgegensetzen, oder solche, die die Fermionen mit der Materie identifizieren, was dann hieße, dass Bosonen, die die Kräfte zwischen den Fermionen vermitteln, nichts mehr mit der Materie zu tun haben könnten. In all diesen Fällen ist es so, dass man willkürlich eine bestimmte Entität aus dem Geflecht der physikalischen Begriffe herausgreift und sie mit der Materie identifiziert, aber jeder greift wieder etwas anderes heraus und es herrscht in dieser Frage keinerlei Konsens unter den Fachleuten.

      Was es mit dieser Wirrnis auf sich hat, wird gerade in den Büchern deutlich, die Licht und Materie kontrastieren. Lebensweltlich erscheint es uns in der Tat so, als sei das Licht etwas ganz anderes als die Materie, denn Licht ist im Gegensatz zur Materie schwerelos. Aus diesem Grunde galt es den Griechen als ein göttliches Element und das ist auch noch so in Goethes Farbenlehre oder in der korrespondierenden Auffassung der romantischen Naturphilosophie, aber auch bei Hegel. Doch mit moderner Physik hat all dies nichts mehr zu tun, dazu ist das, was jeweils Materie genannt wird, viel zu heterogen und das göttliche Licht ist allenfalls eine poetische Metapher.

      Es scheint hier vielmehr erneut die vertraute, mehrfach beschriebene Dialektik am Werk: Aus unserer lebensweltlich-praktischen Erfahrung kennen wir die Differenz zwischen Geist und Materie, weil wir handelnde Wesen sind, die ihre Handlungen realisieren müssen. Wir sind gezwungen, in die Materie einzugreifen, aber immer nur aufgrund von Motiven, die sich zuvor in unserem Geiste gebildet haben, d. h. der Mensch ist eine Art Amphibium zwischen Geist und Materie und weil es so ist, bestimmen wir den Begriff der Materie immer nur korrelativ zum Begriff des Geistes. Es verhält sich damit so ähnlich wie mit anderen binär codierten Begriffen auch, die sich ebenfalls nur wechselseitig bestimmen: Begriffe wie Sein und Sollen, Sein und Werden, Möglichkeit und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt, Einzelner und Gesellschaft, Zufall und Notwendigkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit usw.

      Keiner von diesen dualen Begriffen kann für sich allein definiert werden. Er muss sich immer an seinem Gegenteil abarbeiten. Von daher könnte man dreist sagen: Der Begriff des Materialismus ist selbstwidersprüchlich. Er muss nämlich, wenn er näher bestimmt werden soll, von seinem Gegenteil Gebrauch machen, wodurch er sich aufhebt. Hegel hat als spiritualistischer Monist das Problem viel deutlicher gesehen. Er wusste, dass er den Geist nur relativ zur Materie bestimmen kann. Also hat er sich in einer gigantischen, lebenslangen Anstrengung darum bemüht zu zeigen, dass die Materie nur eine Form des Geistes sei. Man kann zweifeln, ob ihm das gelungen ist, aber er hat zumindest das Problem gesehen, dass wir nämlich Geist und Materie immer nur wechselseitig bestimmen können, während die heutigen Materialisten sich einfach nur auf die Physik berufen, eine Berufung, die ins Leere geht und die nur deshalb einen Schein von Plausibilität hat, weil der Materialist zuvor seine lebensweltliche, vorphysikalische Erfahrung in eine dazu ungeeignete Physik hineinprojiziert hat. Dann interpretiert er die eher ätherischen Größen seiner Theorie wie Energie, Welle, Feld, Photon oder Neutrino als einen Gegensatz zur Materie, die er lediglich postuliert. Von Geist spricht er gewöhnlich nicht, müsste es aber konsequenterweise tun. Aber dann würde deutlich, dass er sich nicht mehr im Binnenbereich der Naturwissenschaft aufhält. Diesen eher ätherischen Größen, Kraft bei Kepler und Newton, Licht bei de Broglie, Feynman und Haken, Raumzeit bei den Quantenfeldtheoretikern, setzt er sodann die Materie entgegen, wodurch dieser Begriff genauso vielgestaltig wird wie das, wogegen er sich abgrenzt. Vielleicht ist dies der Preis, wenn wir wissenschaftliche Ergebnisse in unsere Lebenswelt rückübersetzen. Dann lösen wir die Präzision der Wissenschaftssprache auf in die Vagheit und Mehrdeutigkeit der Alltagssprache. Es ist wie der Übergang von der Photographie zur Malerei.

      Könnte es nicht sein, dass die unglaubliche Faszination, die von Gerhard Richters photographieähnlichen Malereien ausgeht, genau daher rührt, dass er diesem Übergang ästhetisch nachspürt, den wir in der verwissenschaftlichten Moderne permanent, jetzt aber in der Wirklichkeit, vollziehen? Ist nicht die Kunst ein Spiegel der Gesellschaft, und wenn dieses ungeklärte Verhältnis zwischen Wissenschaft und Lebenswelt tatsächlich ein Grundproblem unseres modernen Bewusstseins sein sollte, dann würde die Faszination von Gerhard Richters Malerei verständlich. Richter legt seiner Malerei tatsächlich echte Photographien zugrunde. Er verfremdet sie dann maltechnisch auf eine Art, die den Betrachter völlig ratlos zurücklässt. Man meint auf den ersten Blick, ein echtes Photo zu erkennen. Bei näherem Zusehen verschwimmt aber das Photorealistische und dann glaubt man plötzlich einen kurzen Augenblick lang an abstrakte Malerei, um diesen Gedanken

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