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„sah“ und erfuhr auch den nagbu genannten Süßwasserhorizont, der den Menschen ansonsten unzugänglichen Machtbereich des Weisheitsgottes selbst. Das jüngere Gilgamesch-Epos stellt anders als das ältere, so sehen wir es gleich an der ersten Zeile, die Erfahrung, die Weisheit Gilgameschs deutlich in den Vordergrund. Dies ist es, was das jüngere Epos in erster Linie rühmt: den Gilgamesch, der nicht nur ein „All an Weisheit“ erworben hatte, sondern das „Geheime, das er sah“, der Menschheit „offenlegte“. Die Ruhmestaten dieses Königs Gilgamesch sind nicht durch Kraft erlangt, sondern durch erworbene und offenbarte Erkenntnis, die der König zum Nutzen der ihm Anempfohlenen einsetzte und weitergab. Gilgamesch, so haben wir es als zentrale Aussage bereits aus den ersten Zeilen des Textes vernommen, brachte Erkenntnis, „brachte Weisung von der Zeit vor der Flut.

      Was bedeutet dies? In der Weltenschöpfung hatten, nach babylonischer Vorstellung, die Götter nicht nur den Kosmos, die Natur und den Menschen erschaffen. Als Vollendung des göttlichen Schöpfungswerkes seien, so berichten es die Keilschriftquellen, nacheinander sieben göttliche Weise aus den Wassern gestiegen (den babylonischen Theologen zufolge soll es immer wieder der Weisheitsgott selbst gewesen sein) und diese sieben Weisen hätten die Menschen Wissenschaften und Künste, kurz alle Kulturleistungen gelehrt, die seitdem nicht mehr hätten vermehrt werden können. Durch die Katastrophe der Sintflut jedoch waren die Menschen abgeschnitten von der Frische und der klaren Ordnung der Schöpfung, beraubt des Ordnungswerkes der uranfänglichen Schöpfung und gesetzt in eine Zeit, der es an dem ordnenden Regelwerk der vorsintflutlichen Welt gebrach. Das mit und von der Flut Verschüttete ist es, was Gilgamesch, der Allerfahrene – so lesen wir es aus den ersten Zeilen des Textes – den Menschen wiederbringt: die „Weisung von der Zeit vor der Flut“. Die folgenden Zeilen des Textes zeigen dies deutlicher:

      Er brachte Weisung von der Zeit vor der Flut.

       […]

      Er baute die Mauer von ‚Uruk, der Hürde‘,

      die des hochheil’gen Eanna, des glanzvollen Schatzhauses.

       Sieh’ an dessen Mauer, deren Friese (strahlen) wie Kupfer!

       Betrachte deren Brustwehr, die niemand nachzubilden weiß!

       Nimm doch die Treppe, die (dort) seit ewigen Zeiten!

      Komm heran an Eanna, den Wohnsitz der Ischtar,

       den kein künft’ger König wird nachbilden können, noch sonst ein

      anderer Mensch.

      Steig doch herauf, auf der Mauer von Uruk wandle einher.

       Nimm ihre Fundamente in Augenschein und prüfe ihr Ziegelwerk:

       (Prüfe), ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein besteht

       und ob nicht die Sieben Weisen (selbst) ihre Fundamente gelegt!

      Die „Hürde“, die Gilgamesch, der König, der ihm anempfohlenen menschlichen Herde errichtet hat, die Mauer Uruks, das über Jahrtausende unvergängliche Werk des Königs, ist in der Sicht des Dichters keineswegs erstmals auf Weisung Gilgameschs entstanden! Die letzten Verse: „Prüfe, ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein besteht / und ob nicht die Sieben Weisen (selbst) ihre Fundamente gelegt!“ besagen deutlich: Gilgamesch errichtete die von der Flut zerstörte Mauer auf ihren vorsintflutlichen Fundamenten und bietet so durch seine Kraft, sein Wissen und seine Kunst den Menschen wieder den Schutz, den die vorsintflutliche Ordnung ihnen bot und die nachsintflutliche Welt ihnen bisher verwehrte. Die Mauer ist den Menschen ewiges Zeichen dafür, dass mit Aufwand und Kraft die Sicherheit der sozusagen paradiesischen Ordnung wiederhergestellt werden kann. Hierum geht es – unter anderem jedenfalls – im Gilgamesch-Epos.

      Ein weiteres zeigt noch die erste Passage des Epos: Die Erinnerung der schon im 1. Jahrtausend v. Chr. ehrwürdig-uralten Schriftkultur Mesopotamiens geht offenbar so weit zurück, dass nach Jahrtausenden noch bewusst geblieben ist, dass „Stadt“ als segen- und schutzbringende „Hürde“ der Menschen eine mit höchsten Anstrengungen erreichte Kulturleistung ist, die sich erstmals im südlichen Mesopotamien vollzog. Von Kulturleistungen soll auch im Folgenden noch die Rede sein.

      FAHRT ANS ENDE DER WELT

      König Gilgamesch, voll ungezügelter Kraft und zu zwei Dritteln Gott, nur zu einem Drittel Mensch, bedrängt die ihm anvertrauten Menschen Uruks, die ihres Königs wegen keine Ruhe finden können. Um ihn zu bändigen, erschaffen die Götter Enkidu als seinen Gegenpart. Ist Gilgamesch die Kultur, so ist Enkidu ganz Natur. Der ganz Behaarte

      frisst mit den Gazellen das Gras,

       mit dem Wild trinkt er am Wasserloch

      und mit dem Getier erfreut er sich am Nass.

      Die Tiere weichen erst dann in Angst vor ihm, nachdem eine Dirne, die sich vor ihm entblößte und mit der er „6 Tage und 7 Nächte schläft“, ihn verführt, von der Natur zur Kultur verführt: „Komm, ich will dich hineinführen nach Uruk …“ Brot, Bier und Kleidung empfing er aus ihrer Hand. Diesen „Sündenfall“ zur Kultur wird Enkidu in der Stunde seines Todes einst verfluchen und mit ihm die Verführerin, die Dirne, die für alle Zukunft auf der Straße leben und von Betrunkenen geschlagen werden möge. Der Sonnengott muss intervenieren, um von Enkidu auch einen Segen für die Dirne zu erwirken: „Um deinetwillen werde verlassen die Mutter von sieben Kindern, die Gattin!“, lautet einer dieser Segenssprüche.

      Der „domestizierte“ Enkidu und Gilgamesch messen ihre Kräfte, werden unzertrennliche Freunde. Gemeinsam ziehen sie gegen Chumbaba, den von den Göttern eingesetzten „Wächter des Zedernwaldes“, den noch nie ein Mensch betreten hatte. Als erste wollen sie die gewaltigen Bäume fällen und mit diesen prächtige Bauwerke errichten, so wie es seit ihrer Urtat dann dem Königtum geziemt. Mächtige Baumstämme stehen in dem waldarmen Mesopotamien kaum zur Verfügung und werden dennoch von jedem mesopotamischen König, der seiner Macht mit einer repräsentativen Architektur Ausdruck verleihen möchte, für die Dachkonstruktionen großer Bauwerke und für die Herstellung monumentaler Türen dringend benötigt. Über Jahrtausende führten die Herrscher des Zweistromlandes Kriege mit den Völkern Irans, Anatoliens, Syriens und Palästinas, um an diesen unverzichtbaren Rohstoff zu gelangen. Der uranfängliche dieser Kriege ist der Zug Gilgameschs und Enkidus gegen Chumbaba, die furchtbare, feuerspuckende, aber nicht bösartige Kreatur: „Sein Mundwerk ist ‚Das Feuer‘, sein Ausspruch ist der Tod“. Mit List bezwingen die beiden Freunde den armen Chumbaba, der ganz vergebens um sein Leben bittet (s. S. 33). Er wird geschlachtet, zerfetzt, sein Haupt als Trophäe verschickt. Dann werden die Zedern gefällt und den Euphrat herabgeflößt.

      In dem Mord am göttlichen Diener, der doch eine notwendige Bluttat war – denn die hohe Kultur zwischen Euphrat und Tigris braucht das Holz und würde es immer brauchen –, in diesem Mord liegt tiefe Hybris. Dreist griffen Menschen in die göttliche Ordnung ein und zerstörten sie. Und nicht allein der Wunsch, die „Hürde“ Uruk mit Bauholz zu errichten, trieb Gilgamesch und Enkidu zu ihrer grausamen Tat. Auch eitle Geltungssucht war mit im Spiel. Denn vor der Gefährlichkeit des Chumbaba gewarnt, hatte Gilgamesch gesagt: „Würde ich fallen, hätt’ ich (mir dennoch) einen Namen gemacht. / (Man würde sagen:) ‚Gilgamesch hat den unbänd’gen Chumbaba in Kampf verstrickt!'“. – Der Sieg der Kultur über die Natur, der Gilgameschs und Enkidus über Chumbaba hat seinen Preis, der höchsten Triumph und Allmachtsgefühle vergällt.

      Enkidu muss sterben und Gilgamesch, der seinen geliebten Freund nicht eher verlässt, „bis ihm der Wurm aus der Nase fiel“, erfährt hautnah, dass die Triumphe des Mächtigen vor den essentiellen Dingen des Lebens nichts weiter sind als Schall und Rauch. Später wird es ihm der aus dem Reich der Toten empor beschworene Enkidu bitter bestätigen: Hinter dem Eingang zur Unterwelt liegen die Kronen irdischer Herrscher, abgelegt auf einem Haufen – denn vor des Todes Angesicht sind alle gleich.

      Nun tut Gilgamesch etwas

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