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Die Unsichtbaren. Roy Jacobsen
Читать онлайн.Название Die Unsichtbaren
Год выпуска 0
isbn 9788711449653
Автор произведения Roy Jacobsen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Das machste nich noch mal«, sagt Maria, wendet sich von ihm und dem Schwein ab und geht hinauf zu den Häusern, um das Essen zu bereiten, während auf dem Gesicht ihres Mannes ein Lächeln erscheint, das Ingrid noch nie gesehen hat. Sie spürt, dass die Mutter wütend ist, den Rest des Abends und den ganzen Tag danach. Doch dann geschieht etwas Unsichtbares und die merkwürdige Stimmung ist verschwunden. Das Schwein wird Grützkopf genannt.
7
Die Häuser auf Barrøy stehen in einem schiefen Winkel zueinander. Von oben her sehen sie aus wie vier Würfel, die irgendwer achtlos verstreut hat, dazu gibt es einen Kartoffelkeller, der im Winter zum Iglu wird. Zwischen den Häusern liegen Steinplatten, es gibt Gestelle, auf denen Kleider getrocknet werden, und Graswege führen strahlenförmig nach allen Seiten, aber eigentlich bilden die Häuser einen Keil gegen den Wind, damit sie nicht umgeworfen werden können, selbst wenn sich das ganze Meer über die Insel ergießt.
Niemand kann sich dieses sinnvolle System als eigenes Verdienst anrechnen, es ist das Ergebnis von kollektiver und ererbter Weisheit, erbaut aus teuer erkaufter Erfahrung.
Aber nicht einmal ein historischer Geniestreich kann verhindern, dass sich im Winter eine Flutwelle aus kompaktem Schnee zwischen Wohnhaus und Stall schiebt, durch die sie sich mit Wassereimern und Melkeimern hindurchkämpfen müssen, wenn sie zu den Tieren und wieder ins Haus wollen. Sie nennen diesen Schnee Welle und verfluchen ihn wie nur wenige andere Phänomene, denn die Welle erhebt sich gern dann, wenn die Nerven blank liegen, im Januar und Februar, im Dezember, ja, im März, eine Mauer aus Sulzschnee zwischen Tieren und Menschen, und Schneeschaufeln hilft nichts, auch wenn sie es trotzdem tun, denn alles wird sofort wieder zugeweht. Die Männer schaufeln Schnee, die Frauen schleppen Wasser und Milch, und meistens müssen die Frauen die ganze Runde um Haus und Stall drehen, und das ist eine lange Wanderung, wenn sie sich in den Windböen nicht einmal aufrecht halten können.
Aber die Häuser haben nicht immer so dagestanden wie jetzt, zwischen der Baumgruppe und dem Beerengarten auf dem höchsten Felsrücken, sie standen weiter unten, in einer einige hundert Meter weiter gelegenen Bucht, die Karvika genannt wird. Dort gibt es jetzt nur noch zwei Grundmauern und die von Tang und Sand überdeckten Reste eines Anlegers. Daran denkt im Alltag niemand auf der Insel, sie wissen eigentlich gar nichts darüber, dass dort einst jemand gelebt hat. Doch selbst in einem Leben zu Fuß auf festem Boden gibt es Augenblicke, da man in anderen Bahnen denkt als den gewohnten, und da geht es einem auf, dass es eine Erklärung dafür geben muss, weshalb die Häuser nicht noch immer drüben in der Bucht stehen, wo sind sie geblieben, diese Häuser, und warum stehen sie dort nicht mehr?
Die Erklärung ist mit ziemlicher Sicherheit tragisch, vielleicht ist sie entsetzlich.
Der alte Martin hat hier die längsten Wurzeln, ist die Quelle mit dem höchsten Status, und er hat ja seine Ansichten darüber, warum und wann die verlorene Zivilisation verschwunden ist, es geht hier um seine eigenen Ahnen, und er erinnert sich auch an ein paar Bruchstücke aus seiner Kindheit, einige Bilder und Sätze und Berichte. Aber er ist nicht mehr der Glaubwürdigste unter ihnen, das liegt an seinem hohen Alter und der natürlichen Schwäche, die nicht nur das Gedächtnis verzehrt, sondern auch seltsame Einfälle und Wunderlichkeiten mit sich bringt, die einen alten Mann in den Augen der Jüngeren lächerlich machen, so dass jede Generation ihre eigenen Wege gehen und sich an das erinnern kann, woran sie sich erinnern will. Auch sie führen sicher irgendwohin, diese neuen Wege, schlimmstenfalls in denselben Kreisen, nur dauert es eben noch so lange.
Aber auch wenn sie rein gar nichts über die Ruinen von Karvika wissen oder wenn sie keine Erklärung dafür haben, was einst zwei Häuser waren und jetzt keine mehr sind, haben sie doch Respekt vor den Ruinen. Sie machen einen Bogen darum, die Kinder spielen dort nicht, die Vögel bauen dort kein Nest, nicht einmal die Eiderenten, und die Menschen kommen nicht auf die Idee, sie abzureißen und die Steine für andere Bauten und Grundmauern zu verwenden, zum Beispiel für die, die sich zwischen den Gärten dahinziehen. Lieber suchen sie sich neue Steine, damit die Reste dort wie ein Denkmal oder ein Friedhof stehen können, unheimlich und überwuchert von Brennnesseln und Weidenröschen, und das Gefühl von etwas aussondern, das zu kalt und zu heiß zugleich ist. Wenn man vom Hügel auf die Ruinen hinabblickt, sehen sie aus wie chinesische Zeichen, geschrieben mit zwei verschiedenen Händen. Im Winter sind sie von Schnee bedeckt, dann werden die Zeichen noch deutlicher, vor dem fauligen braunen Gras, ehe auch das Gras weiß wird.
8
Sie haben oft darüber diskutiert: In welchem Zimmer sollen wir schlafen? In dem, das nach Norden schaut, ist es schweinekalt und unerträglich, wenn im Winter der Nordostwind weht, im Sommer aber kühl und angenehm. Und dann ist es so gut wie lautlos, da der Regen in der Regel von Südwesten kommt und einen Höllenlärm macht, sei es nun Sommer oder Winter. Wenn die Sommer ganz besonders feucht sind und sie weder auf dem Boden noch auf Reutern Heu trocknen können, sagt Hans Barrøy: »Na, Mutter, ich glaub jetzt, wir ziehn nach Norden, hier kann man’s doch nich aushalten.«
Wenn im Winter die Eiskristalle auf der Bettdecke glitzern, sagt er das Gegenteil, jetzt ziehen wir nach Süden: »Hier friern wir uns doch tot.«
Sie nehmen die Daunendecken mit von Norden nach Süden und umgekehrt, lassen sich von den Jahreszeiten treiben, denn sie haben in jedem dieser Sparrenräume, die sie Säle nennen, Nordsaal und Südsaal, ein großes Bett stehen. Ingrid schläft in der Kammer, die dazwischen liegt und nach Westen blickt und mitten in der Nacht Sonne hat, in der Jahreszeit, von der sie in den drei anderen träumen, und Barbro in dem, das nach Osten liegt, woher das gute Wetter kommt.
Der alte Martin schläft unten in einer Kammer hinter dem Wohnzimmer. Manchmal hat er die Tür offen stehen, und er hat einen eigenen Ofen, in dem er energisch einheizt, da er so leicht friert, und deshalb ist es auch in den Jahreszeiten im Wohnzimmer warm, in denen man in diesem Landesteil die Wohnzimmer zu gar nichts benutzt, was bedeutet, dass sie manchmal an einem ganz normalen Sonntag im Oktober oder März dort zu Mittag essen. Dann legt Maria eine weiße Decke auf den Tisch.
Diese Decke hat kleine Borten aus winzigen Blumen, roten und gelben, und grüne Lianen, die sie miteinander verbinden, Marias Mutter hat sie gestickt, vor allem aber ist die Decke weiß.
Und Maria will am liebsten im Südsaal schlafen, auch wenn es bei gutem Wetter im Sommer dort zu warm ist, und zu laut bei schlechtem Wetter, im Sommer wie im Winter, denn von diesem Fenster aus hat sie einen Blick über Barrøy und die kleinen Inseln im Süden, und an klaren Tagen kann sie bis nach Hause nach Buøy schauen, wo sie aufgewachsen ist, ihre Vergleichsgrundlage. Der Südsaal ist außerdem ein wenig größer als der Nordsaal, deshalb kann sie ihre Truhe vor der Wand stehen haben, und es gibt außerdem noch Platz für die beiden Nachtkommoden, die der Vater ihnen zur Hochzeit geschenkt hat, den alten Dreck, wie er sie nannte, zudem stammten sie von ihrer Mutter, die viel zu jung an einer Epidemie gestorben ist, von der die Bevölkerung hier so gewaltig dezimiert wurde, dass nur die Stärksten überlebten.
Wollen wir nicht bald sesshaft werden wie anständige Leute, fragt sie, und nicht herumstreunen wie die Zigeuner?
Und nachdem das Schwein Grützkopf ins Haus gekommen ist – es haust in einer Torfhütte, die für den Moment leer steht –, findet Hans, er müsse ein wenig Initiative an den Tag legen, und deshalb nimmt er, als die Eiderentenhäuser – die E-Häuser – repariert und die Kartoffeln gesetzt sind und die Tage für kurze Frist länger, milder und weiter werden und sie eigentlich Torf stechen müssten, Bohrer und Hammer und Dynamit und geht zum Felsvorsprung in der Nordwestbucht, wo geteerte Pfähle lotrecht in den Meeresboden getrieben und im Abstand von jeweils einem halben Meter mit dem Fels verbolzt sind, so dass bei gutem Wetter größere Boote anlegen können, zum Beispiel das Frachtboot der Handelsniederlassung oder das von Hans’ Bruder Erling, der jedes Jahr um Neujahr vorbeikommt, um Hans und dessen Leinensysteme aufzulesen, wenn es zu den Lofoten geht. Dort steht auch ein Schuppen, den sie den Lofotschuppen nennen, er ist das ganze Jahr abgeschlossen, denn dort wird die wertvolle Lofotausrüstung aufbewahrt.
Wenn auf dieser Insel wirklich etwas fehlt, dann ist das ein richtiger