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wie vom Donner gerührt, als könnten ihre Augen nicht glauben, was sie sahen, dann stieß sie einen freudigen Schrei aus und lief ihrem Liebsten entgegen. Sie warf sich in seine Arme, und ihre Lippen suchten seinen warmen Mund. Voller Glück klammerte sie sich an ihn und schaffte es nicht, ihre Tränen zurückzuhalten.

      »Ich habe dich ja so sehr vermisst«, keuchte sie zwischen zwei leidenschaftlichen Küssen. »Sag, dass ich net träume. Bitte, sag es mir!«

      »Ich bin’s doch wirklich, Schatzerl«, erwiderte er hastig. »Ich habe dich auch so sehr vermisst. Ich bin bald wahnsinnig geworden, da unten im Tal.«

      Wieder küssten sie sich, und als würde selbst der Regen sich darüber freuen, die Verliebten wieder vereint zu sehen, zogen die düsteren Wolken davon und erlaubten der Sonne für kurze Zeit, ihre Strahlen auf das nasse Land zu werfen.

      Ein düsteres Grollen, das irgendwie nicht in die friedliche Stille der Berge passte, ließ Johanne und Raphael aufhorchen. Verwundert blickten sie sich an.

      Der Zauber innigsten Glücks war plötzlich wie fortgewischt und schuf Platz für ein Gefühl der Beklemmung, die nicht mehr von ihnen wich.

      »Was ist das?«, fragte Johanne ängstlich.

      Raphael zuckte mit den Schultern und horchte. Er hob den Kopf und schaute in den Wald hinein.

      »Komm!«, verlangte er und nahm die junge Frau bei der Hand. »Es kommt droben vom Hang. Irgendetwas tut sich da. Lass uns nachschauen!«

      Während sie gemeinsam durch den dichten Tannenwald liefen, beschlich Raphael eine böse Ahnung. Er kannte dieses Geräusch, obwohl es mehr in den Winter passte.

      Nach wenigen Minuten verließen sie den halbdunklen Wald und hatten klare Sicht den Berg hinauf.

      Johanne schrie entsetzt auf und presste beide Hände vor das Gesicht, während Raphael die Luft aus den Lungen stieß, als hätte er den Atem minutenlang angehalten. Der ganze Berg jenseits des Wildbachs schien in Bewegung geraten zu sein. Oberhalb der Baumgrenze hatte sich ein gewaltiges Stück Erdreich gelöst. Schlamm und Geröll, vom wochenlangen Regen durchtränkt, waren in Bewegung geraten und wie eine Lawine in die Schlucht gerast. Nichts hatte sich ihr in den Weg stellen können. Der halbe Wald war mitgerissen worden. Die Wurzeln konnten der gewaltigen Macht nicht widerstehen.

      Die Schlammflut mitsamt Geröll und zerborstenen Bäumen war mit unverminderter Wucht talwärts geschwappt. Ein Ausläufer war bis zum Giefnerhof gedrungen. Schlamm und Dreck schoben sich fast meterhoch an dem Gebäude vorbei.

      »Lauf und hol Vater!«, sagte Raphael und packte Johanne bei den Schultern. »Schnell! Er muss mir helfen!«

      »Aber meine Eltern«, schrie Johanne hysterisch. »Sie müssen noch im Haus sein.«

      Der junge Mann wusste, dass er viel von Johanne verlangte. Er wusste nicht einmal, wie sein Vater reagieren würde, doch er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Es ging um jede Sekunde.

      Die Schlammlawine hatte oberhalb des Gehöfts in einer sanften Senke ihre volle Wucht verloren und den Giefnerhof dadurch vor dem sicheren Untergang bewahrt. Aber die richtige Gefahr baute sich erst langsam auf - und sie würde den Hof mitsamt seinen Stallungen unwiderruflich in die Tiefe reißen. Geröll, Erde und Wurzelwerk hatten einen natürlichen Damm geschaffen. Das Wasser des Wildbachs konnte nicht mehr ablaufen. Bald war der Druck der aufgestauten Fluten so stark, dass es zwangsläufig zur Katastrophe kommen musste.

      »Bitte, Johanne, ruf meinen Vater«, flehte er und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schnell, es geht um Minuten.«

      Die junge Frau war unschlüssig. Sie wusste nicht, was in diesem Moment richtig war. Da unten inmitten von alles erstickendem Schlamm kämpften ihre Eltern vielleicht um ihr Leben - und sie sollte zu ihrem größten Feind laufen und Hilfe holen?

      Das alles war zu viel für sie in dieser kurzen Zeitspanne. Sie schaffte es nicht, es zu verarbeiten. Ein Blick in Raphaels Augen aber sagte ihr, dass sie ihm gehorchen musste. Er wusste, was in dieser schlimmen Lage zu tun war.

      Hastig wirbelte sie herum, während Raphael den Hang hinunterrannte.

      Der Wettlauf gegen den Tod hatte begonnen.

      16

      Je näher Harlander der Schlammlawine kam, desto unruhiger wurde er. Sein Herz pochte, und er ahnte, dass er mit seinem eigenen Leben spielte, wenn er sich in diese tödliche Masse aus nasser Erde und brüchigem Gestein wagte. Jeden Augenblick konnte der Damm oben bei der Schlucht brechen und mit ungeheurer Wucht ins Tal donnern. Dann gab es keine Rettung mehr für ihn und für die Eltern von Johanne.

      Er zögerte nicht, sondern nahm das Wagnis auf sich. Ein Zurück gab es nicht mehr. Zwei Menschen waren in Gefahr. Auf sie lauerte der Tod in seiner heimtückischsten Art. Er durfte nicht dastehen und tatenlos zuschauen.

      Der Schlamm war zu einer zähen Masse geworden. Es schmatzte, als er hineinsprang und sich einen Weg durch die erstarrte Mure bahnte. Fast bis über die Knie reichte die klebrige Masse, und er hatte das Gefühl, irgendwelche unsichtbaren Hände versuchten ihn zurückzuhalten.

      Der Weg bis zum Haus war nicht weit, doch er glaubte, Ewigkeiten wären vergangen, bis er die Außenmauer erreicht hatte und sich durch ein zerborstenes Fenster ins Innere zog.

      »Giefner, hörst du mich?«, rief er laut und schaute zum Hang hinüber. Es war niemand zu sehen. Er war ganz auf sich alleingestellt. Er lauschte, während er versuchte, einen Teil des Schlammes von seiner Hose zu wischen. Zum Glück hatte die zähe Masse die Zimmer in der Parterre noch nicht überflutet. Die Mauern waren stark, aber wenn der Damm brach, würde es den Hof nicht mehr geben. Nicht ihn, nicht die Giefners.

      »Hier sind wir«, vernahm er eine weinerliche Stimme. »Hier oben.«

      Raphael wusste sofort, dass es Johannes Mutter war, die ihm geantwortet hatte. Sie musste im ersten Stock sein.

      So schnell er konnte, hetzte er die Treppe hinauf. Frieda Giefner saß auf dem Boden des kleinen Flurs. Den Kopf ihres Mannes hatte sie in den Schoß gelegt. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.

      »Er ... er ist einfach zusammengebrochen«, sagte sie schluchzend. »Ich weiß net, was ich tun soll. Bitte, hilf mir und such die Johanne! Sie ist weg.«

      »Keine Sorge«, meinte Raphael besänftigend. »Die Johanne ist außer Gefahr. Sie holt gerade Hilfe. Ich hab’ sie zufällig drüben beim Hang getroffen. Sie holt den Vater.«

      Er übersah den fassungslosen Ausdruck im Gesicht der Bergbäuerin und kümmerte sich um Sebastian Giefner. Rasch öffnete er das derbe Hemd des Mannes und legte sein Ohr auf dessen Brust. Erleichtert stellte er fest, dass das Herz noch schlug. Der Puls fühlte sich ebenfalls noch kräftig genug an. In der Aufregung hatte er zum Glück keinen Herzinfarkt bekommen. Wenn sich Raphael nicht täuschte, handelt es sich um einen Schwächeanfall.

      In dieser dramatischen Situation aber konnte solch eine Schwäche tödliche Folgen haben.

      »Rette dich, Bäuerin!«, stieß er aufgeregt hervor. »Rasch, mach, dass du aus dem Haus kommst! Hier bist du net sicher.«

      Frieda Giefner starrte ihn ungläubig an, als könne sie nicht glauben, was er gesagt hatte.

      »Ich soll aus meinem Haus gehen?«, fragte sie gedehnt, »Ist das dein Ernst, Harlander? Nie und nimmer. Und schon gar net ohne meinen Mann. Das kannst du net von mir verlangen.«

      Raphael hatte mit dieser Ablehnung gerechnet.

      »Willst du schon sterben?«, fragte er knapp. »Dann kann ich dir auch net helfen. Da oben, keine zwei Steinwürfe von uns entfernt, kommt gleich eine riesige Schlammlawine herunter. Weißt du das überhaupt?«

      Die Bäuerin wurde kreidebleich. Ihr Blick hastete von Raphaels zwingenden Blick zum Fenster und wieder zurück auf das bleiche Gesicht ihres bewusstlosen Mannes.

      »Bitte, Bäuerin, geh!«, forderte Raphael

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