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Der Vorhang. Beatrix Langner
Читать онлайн.Название Der Vorhang
Год выпуска 0
isbn 9783751800204
Автор произведения Beatrix Langner
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Doch zunächst ist es immer noch Mai, klar und kalt zieht die Morgendämmerung auf, im Treptower Park leuchten Tulpen, Spatzen lärmen im Flieder, zwischen Brandnestern flattert Wäsche, Fliegen summen in der milden Luft, fette, schillernde Fliegen, denn es sind noch nicht alle Toten begraben. In den Bombentrichtern der Reichshauptstadt biegen sich junge Birken, der Wind weht sommerlich heiß, er bringt Staub, überall nichts als feiner Sand und Staub, zerriebene Materie, in der Luft, auf dem Asphalt, Staub legt sich auf Wimpern und Haare, dringt in die Schleimhäute, pudert das Gras, das aus den Ritzen der Steine drängt, nach den letzten starken Nachtfrösten brennt die Sonne aus einem wolkenlosem Himmel, an den Rändern der Bombenkrater blühen wie eiternde Wundränder Polster von Löwenzahn und Narzissen, Bienen summen, Wespen und Hummeln schwärmen aus. Immerhin, es ist noch Leben in diesem stumpfsinnigen Schutthaufen, aus den Sandkratern quellen Büschel von Melde, Boretsch, Scharbockskraut, was Mensch ist, hat sich unter die Erde zurückgezogen, in die Katakomben unter den Ruinen, in die Bunker, Stollen, Keller, Tunnel unter der zerstörten Stadt. Praktisch denken, Särge schenken, sagt man in Berlin. Über der flachen Silhouette lastet steinerne Stille, Kaskaden aus rötlichen Ziegeln stürzen wie Brandung über aufgebogene Straßenbahnschienen, lecken in Wellen über das Kopfsteinpflaster, dazwischen bewegen sich die Stadtbewohner langsam wie auf Eisenschuhen, niemand beeilt sich, die zähe, menschenverschlingende Zeit ist zum Stehen gekommen, und über den lichtlosen Nächten wölbt sich ein sprachloses Nichts.
An einem sonnigen Vormitttag, drei Tage nach Pfingsten, verreckte im Hinterhof des örtlichen Polizeireviers in der Nähe des Ostseehafens Flensburg das Großdeutsche Reich, es verreckte an Blutverlust, an Fäulnis, an Atemnot, es verreckte an seinen Totengräbern, es verreckte unter der Last von fünfundfünfzig Millionen toten Körpern. Von tausend Jahren waren noch gut neunhundertachtundachtzig übrig, als an diesem Morgen drei Männer – der eine in Zivil, die anderen beiden in operettenhaften Uniformen – den staubigen Dorfanger der Sonderzone Mürwik überqueren. Sie klettern auf den bereitstehenden Lastwagen und klopfen sich den Staub von den Mänteln. Zwei Stunden später treten sie durch eine niedrige Tür in den Hof des Polizeigebäudes, wo sie von einer Armada aus Fotografen und Kamerateams erwartet werden. Der Großadmiral streift im Gehen seine Lederhandschuhe über und streicht mit der Rechten über die Aufschläge seines Generalsmantels, der Generalmajor zupft an seinen Manschetten, nur der Minister, als Einziger barhäuptig, blickt routiniert in die Kameras. Mit der steifen Würde einer Feuerwehrkapelle, die Hände auf den Rücken, schreiten Speer, Dönitz und Jodl unter dem Blitzlichtgewitter der Weltöffentlichkeit mehrmals das Hofgeviert ab, bis alle Kameras den Moment festgehalten haben, in dem die geschäftsführende deutsche Reichsregierung von der Hinterbühne der Weltgeschichte abtritt. Ende der Vorstellung. Das letzte Stück eine billige Burleske, dilettantisch wie die Generalprobe eines Amateurtheaters.
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