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eine hübsche hellblaue Bluse für dich. Wenn das Wetter schön war, fuhr ich dich hinunter zum Seeufer. Der Park war uferwärts abschüssig, wir saßen im Schatten hoher Linden, Ausflugsdampfer zogen lautlos vorbei, keckernde Enten umringten uns bettelnd. Nach ein paar Minuten sank dein Kopf auf die Brust, ein Arm hing leblos herab, das gelähmte Bein rutschte grotesk verdreht von der Fußstütze.

      Auf dem Rückweg sah ich ein großes grünes Heupferd; es hatte sich auf den Betonstufen zum Aufzug verirrt, an den Hinterbeinen hatten sich Staubgespinste verfangen, der schlanke hellgrüne Körper mit den zart geäderten Flügeln schien leblos, ein menschliches Haar oder so etwas war wie eine Fußfessel zwischen die Gelenke gespannt und behinderte es. Hektisch tasteten die Fühler nach einem Ausweg. Ich schob den Werbeprospekt eines Seniorenheims, das ich am Vormittag besichtigt hatte, unter das bewegungslose Insekt und trug es zurück auf die Wiese. Ich hatte mir schon fünf oder sechs angesehen, sie hießen Rosenhof oder Seeresidenz und hatten menschenleere Terrassen und gepflegte Gärten, in denen niemand spazieren ging. Ich entfernte vorsichtig die Fußfessel, das Wesen zuckte, versuchte aber nicht zu fliehen, als hätte die Gefangenschaft es in einen Zustand der Betäubung versetzt. Vorsichtig begannen die Fühler zu tasten, dann verschwand es mit stockenden kleinen Hüpfern im Graswald.

       Familienalbum

      Weißer Dunst liegt über dem Loch der Wunde, ich grabe mich in seinen Boden, ich trage seine Schichten ab, aber noch immer nirgends ein Anfang oder Grund, scheinheilig sticht die Sonne aus dem makellosen Blau, wie ein riesiges Buch erhebt sich das Relief der Grube, in samtiges Grün gebettet, die sepiafarbenen Seiten von einem jähen Windstoß aufgeblättert, aus der waldigen Umgebung, verwischt die Abdrücke Millionen Jahre alter Chimären aus der Kindheit des Planeten, aus ihrem ewigen Schlaf gerissen die Wesen, die im Buch der Erde träumten, unlesbar geworden das Alphabet der Schöpfung, ausradiert unter den Raupenketten der Riesenbagger, ich steige hinab in das Buch, um die Schrift zu lesen, dumpfer Druck legt sich auf die Ohren, es ist totenstill, kein Vogel singt, ich stürze, die Erde empfängt mich sanft, ein paar Hundert Meter rutsche ich durch lockeres Sedimentgestein aus Kiesel, Schotter, Tonschiefer, Muschelkalk, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, es ist kälter geworden, Europa erstarrt unter pleistozänem Eis, Schwarz wird Weiß und Weiß wird Schwarz, unter meinen Schritten zerplatzen Jahrtausende, ich erschaffe sie neu, aus einer Handvoll vergifteter Flüsse und toter Gletscher komponiere ich mir ein Anthropozän, auf dem Hintergrund meiner eigenen Unwirklichkeit will ich eine wirkliche Welt beschreiben, ich nehme den Oberkiefer eines Schnabeltiers, einen Berg zerbrochener Saurierrippen, eine Handvoll Baumsamen und vermische alles mit jurassischem Sand, ich atme Morgenluft, am diluvianischen Horizont wird es schon hell.

      Das Radio läuft leise, Schlager der siebziger Jahre, unterbrochen von Werbung. Du sitzt im Sessel. Ich fülle Tee in den Plastikbeutel, kontrolliere den Schlauch und schließe die Pumpe wieder an, die leise schnurrend anspringt.

      Du hast nie viel von deiner Kindheit erzählt, sage ich. Vielleicht fangen wir mit Esther an, die eines Tages nicht mehr zur Schule kam, Esther Donnerstag, weißt du noch, du hast den Namen mal erwähnt, ich habe ihn mir gemerkt, eindeutig ein jüdischer Name, ihr wart vier Freundinnen, hast du gesagt, Ruth, Esther, Hilde und du. Es gibt ein altes Foto, so um Neunzehndreiunddreißig oder spätestens fünfunddreißig aufgenommen, also im Jahr der Nürnberger Gesetze, eine Schulklasse voll kleiner Mädchen, sage ich, du in der vorletzten Reihe, ein hübsches blondes Kind mit kurzgeschnittenem Haar und schmollend aufeinandergepressten Lippen, da warst du acht oder zehn, aber wer könnte Esther sein, das jüdische Mädchen, vielleicht die Dunkelhaarige da in der zweiten Reihe mit dem wachen Blick, oder die mit den Zöpfen?

      Schon komisch, sage ich, dass ich dir dein Leben erzähle, obwohl es normalerweise umgekehrt sein müsste, aber was ist schon noch normal zwischen uns, die natürliche Ordnung steht auf dem Kopf, die Zeit folgt nicht mehr dem Lauf eines Menschenlebens von der Wiege bis zur Bahre, wie man so sagt. Sie läuft rückwärts. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, Monat für Monat für Monat. Nach dem Winter wird es wieder Herbst, der Sommer wird mit Regentagen und Hitze am Mittag kommen, die Zeit zieht uns mit sich in den dunklen Grund und so wird es nie enden, es wird immer so weitergehen, sage ich, bis mein Leben vorbei ist.

      Ich stelle das Bügelbrett so, dass du mich sehen kannst. Nach ein paar Minuten fallen dir die Augen zu, das Kinn sinkt auf die Brust. Du schnarchst leise, der rechte Arm rutscht leblos vom Schoß, aus dem linken Mundwinkel sickert Speichel.

      Soll ich dir mal von dem Doktor erzählen, der dich auf die Welt gebracht hat? Er heißt Arno Philippsthal, sage ich, zu ihm geht Großvater, wenn die Kopfschmerzen wieder unerträglich werden, ein Granatsplitter spaziert seit der Schlacht vor Verdun in seinem Schädel herum. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1924 wird Dr. Philippsthal in den Fridolinweg gerufen. Als der Doktor eintrifft, ist das Kind schon abgenabelt und schläft erschöpft, in eine Decke gewickelt, im Wäschekorb. Er untersucht die Mutter, sie hat viel Blut verloren und ist blass. Er prüft die Nachgeburt und gibt Großmutter eine Spritze. Großvater wartet in der Küche. Schnee bedeckt den baum- und strauchlosen Garten wie ein gestärktes Tischtuch.

      Was bin ich Ihnen schuldig, Herr Doktor, sagt Großvater und steht auf, als der Doktor in die Küche tritt.

      Lassen Sie mal, sagt der Arzt, Ihr kleiner Weihnachtsengel ist gesund und die Mutter päppeln wir schon wieder auf.

      Er zieht den Mantel an und schnallt vor der Tür den Arztkoffer auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Es schneit immer dichter.

      Frohe Weihnachten, er winkt Großvater zu. Frohe Weihnachten, sagt Großvater und winkt dem Doktor nach, der das Rad durch den Schnee schiebt.

      Der Doktor hätte das Land verlassen sollen, sage ich und verstaue die gebügelte Wäsche in der Schrankwand. Warum ist er dageblieben, er war doch Jude, da muss er doch gesehen haben, was nach den Märzwahlen los war, die grölenden Horden, die in ihren kackbraunen Uniformen mit den roten Koppeln durch Lichtenberg zogen, das hat man schon hundertmal in Filmen gesehn, die Aufmärsche auf dem Alexanderplatz, die Hetzjagden auf Juden und Kommunisten durch Neukölln und Wedding. Ich kann dich nicht fragen. Deine Erinnerungen sind in den unendlichen Schleifen der Nervenbahnen verschwunden, verstummt wie Radiowellen aus dem Weltraum.

      Nachdem die Schwester vom Pflegedienst gegangen ist, die jetzt zweimal am Tag kommt, halte ich deine Hand, bis du eingeschlafen bist. Wo bist du jetzt, denke ich, in welcher Welt. Wohin gehen all die Geräusche, Gerüche, Stimmen, die gelöschten Bilder, die nicht zu Ende gesprochenen Sätze, die nicht abgeschickten Briefe, die nicht erzählten Geschichten, die sich irgendwann abgelöst haben von den Personen, denen sie einmal gehört haben müssen. Wie viele Welten können in einem einzigen Blutgefäß zerplatzen, wie viele Bibliotheken, wie viele philosophische Systeme, wie viele neuronale Galaxien mit einem Schlag verlöschen. Gibt es ein Fundbüro für Erinnerungen, die von ihren Besitzern verloren wurden? Schweben sie vielleicht als herrenlose Zeitmoleküle durch den unendlichen Raum und vermischen sich mit dem Licht, das alle festen Körper durchdringt und uns umfließt, ein Fluidum, in dem die Nochnichtgeborenen schwimmen wie in einer Art Fruchtwasser, oder geistern sie als virtuelle Meme durch die digitalen Netze um die Erde und bilden ihrerseits wieder Netze, in denen die vergessenen Bilder als Avatare ihrer Besitzer weiterleben?

      Soll ich dir sagen, was aus dem Doktor geworden ist, sage ich, du warst noch zu klein, du kannst es nicht wissen, aber es gab Zeugen, die später alles aufgeschrieben haben, der Doktor war gerade von einem Hausbesuch zurück, als sie ihn holten, Ende März dreiunddreißig, am frühen Nachmittag, ein Trupp SA-Männer in Uniform erwartete ihn vor der Praxis. Sie hatten keinen Haftbefehl, sie waren höflich und forderten ihn auf, zwecks Klärung eines Sachverhalts mitzukommen. Auf der Straße wartete ein Auto mit laufendem Motor. Der Doktor stellte die Instrumententasche ab, seine Frau stand in der Tür, die Männer nahmen ihn in die Mitte. Ich nehme meinen eigenen Wagen, sagte der Doktor. Er rechnete damit, dass sich alles schnell klären würde, ein Missverständnis. Er fuhr also im eigenen Wagen zum Biesdorfer Polizeiposten, hinter sich die Sicherheitsleute. Auf dem Revier wurde er gebeten, Platz zu nehmen. Das war das letzte Mal, dass man ihn sah. Der Doktor wurde in die SA-Kaserne in der General-Pape-Straße

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