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Der Vorhang. Beatrix Langner
Читать онлайн.Название Der Vorhang
Год выпуска 0
isbn 9783751800204
Автор произведения Beatrix Langner
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Und Esther? Eines Morgens sei sie nicht mehr gekommen, hast du erzählt, das war alles, sie kam einfach nicht mehr zur Schule, mehr war aus dir nicht herauszubringen. Vielleicht ist es dein Schicksal, im Augenblick zu leben, sage ich, deiner Erinnerungen beraubt, dieser vollkommen nutzlosen Erinnerungen. Damit du Esther vergessen konntest und den Tag, an dem sie nicht mehr zur Schule kam, sodass der Zustand der Auslöschung, in dem du dich seit zwei Jahren befindest, vielleicht nur die äußere Form eines Verstummens ist, das schon viel früher angefangen hat, lange vor meiner Zeit.
Ich komme vom Einkaufen zurück, du liegst noch im Bett, mit rotgefrorenen Händen streife ich über deinen mageren Unterarm, du machst Huch und verziehst den Mund zu einem lustigen Grinsen.
Draußen schneit und friert es, sage ich, richtiges Schneetreiben heute.
Wirklich? fragst du und ziehst komisch den Kopf ein. Sie wird wieder sprechen lernen, denke ich erfreut, das ist ein gutes Zeichen.
Du greifst nach meiner eiskalten Hand, drückst sie an die Lippen und ziehst sie unter die Decke an deine Brust.
Auf dem Foto, das auf deinem Nachttisch steht, sieht man eine Gruppe von zehn, fünfzehn Menschen verschiedenen Alters vor einem niedrigen Häuschen stehen, sie lächeln, es ist diese Art von Lächeln, wie es Leuten in den Fotoateliers aufgesetzt wird, ein etwas verlegenes, pflichtgemäßes Lächeln, das Foto muss ungefähr 1936 in der Siedlung am östlichen Stadtrand aufgenommen worden sein, in der du geboren bist, du sitzt vorn in der ersten Reihe und blickst launisch schmollend direkt in die Kamera, hinter dir, ziemlich genau in der Bildmitte ein etwa vierzehnjähriger Junge mit abstehenden Ohren, ein Blumensträußchen am Revers seines dunklen Anzugs, wahrscheinlich dein jüngerer Bruder am Tag seiner Konfirmation, sage ich. Großmutter steht links am Rand in einem festlichen Kleid mit kleinem weißem Kragen, leicht wie eine Feder, hinter ihr ein Mann mit abstehenden Ohren, daneben eine ältere Frau mit rundem Gesicht, sie hat sich bei einem schlanken Mann untergehakt, in der hinteren Reihe ein Mann mit Halbglatze in den Vierzigern, eine alte Frau mit eingesunkenen Augen, fast verdeckt von einer anderen mit bäuerlich groben Zügen, und rechts am Rand der Gruppe mein unbekannter Großvater, ein schlanker, freundlicher Mann um die vierzig, leicht auf einen Stock gestützt, er starb in dem Winter vor meiner Geburt. Offensichtlich handelt es sich um eine Familienfeier, diese Menschen da sind deine und meine Familie, sage ich, aber nirgends erkenne ich etwas wie Ähnlichkeit, für mich sind es Fremde, ich kenne nicht einmal mehr ihre Namen, ihre Gesichter sagen mir nichts, und wozu auch, wir waren eine ganz normale deutsche Familie. Soviel ich weiß, war niemand Nazi, niemand wurde verhaftet oder deportiert, bei uns gab es weder Juden noch Kommunisten. Alle Familienfotos sehen sich sowieso zum Verwechseln ähnlich, alle Hochzeits- und Konfirmationsbilder, alle Kinderfotos, alle Urlaubsschnappschüsse, ebenso gut könnte ich in einem der Fotoalben auf dem Flohmarkt blättern. Die große Geschichte, die Geschichte der Kriege und der Straßenschlachten, der Gefängnisse und der Irrenanstalten, der Todeslager und der Gettos bleibt darauf unsichtbar, denn mit jeder Generation fing immer wieder alles von vorn an, wie oft auch die politischen Zeiten sich änderten. Und als nach dem Kaiser die Republik und nach der Republik das tausendjährige Reich und auf den braun angestrichenen Sozialismus der rote Sozialismus folgte, nahmen unsere Leute davon wenig Notiz, solange sie nur genug zu essen für sich und ihre Kinder und ein friedliches Dach über dem Kopf hatten, wie sie dann schließlich auch von ihrem eigenen Schwächerwerden wenig Aufhebens machten, bis sie eines Tages spurlos von der Erde verschwanden. Nichts wurde aufgeschrieben oder aufgehoben, keine Briefe, Tagebücher, nicht einmal Geburts- oder Heiratsurkunden. Offenbar gab es in ihren kleinen Leben nichts, das die Mühe wert gewesen wäre, und so wurden sie vergessen, wie sie selbst vergessen hatten.
Und trotzdem, sage ich, bestehen die meisten von uns auf unseren ganz persönlichen, einzigartigen Erinnerungen; wir wollen nicht untergehen in diesem Meer aus Zeit, das uns jeden Augenblick von allen Seiten umflutet, denn unter der verborgenen Tiefe brodelt das Schweigen, das Unausgesprochene und Unbewusste, und eines schönen Tages könnte es uns passieren, dass die vielen verstreuten Erinnerungen ans Licht der Gegenwart drängen, die Schädelkapsel ihrer Besitzer durchbrechen und sich anderer, fremder Gehirne bedienen, um sich wie ein Magmastrom aus einer unterirdischen Plume über die ganze Erde zu verbreiten, und die Erinnerungen aller Menschen, die je auf ihr gelebt haben, werden sich in einem gewaltigen stream of conciousness auflösen wie Würfelzucker in einem Glas Tee.
Finis Germaniae
Hier ist das Ufer. Über mir der niedrige Himmel des Nordens. In langen Wellen bäumt sich das Land, schiebt drängt drückt der Bagger den Leib der Erde, weit und breit nichts als Sand, roter gelber brauner Sand, der in den Augen brennt und zwischen den Zähnen knirscht, wie ein Sandwurm winde ich mich durch Sedimentschichten, die das pleistozäne Eis zurückgelassen hat, mein stratigrafischer Körper wächst rückwärts durch Raum und Zeit, auf der Suche nach den unterirdischen Wäldern tauche ich auf den Grund des Jetzt, an der Grenze zum Neogen stößt mein Fuß an grobe Flusskiesel, das muss schon das Miozän sein, das Meer ist zurückgekommen, Farnwedel winken mir zu, wagenradgroße Ammoniten schweben traumverloren vorbei, Knochenfische grasen in den Seelilienwäldern, in meinem Rücken versinkt die schwarze Sonne des Holozän, Kinder, wie die Zeit vergeht, zwölf Millionen Jahre bin ich schon unterwegs, wie tief muss man steigen, um sich selbst auf den Grund zu kommen, wenn da immer noch eine und noch eine Zeit ist, dieser ewige Wechsel von Eiszeiten und Warmzeiten, Überflutungen und Dürren ist auf die Dauer ermüdend, ich sehne mich nach den heißen Sommern des Anthropozän, du musst dich entscheiden, sagt das Kind, wie der Wind nicht von Westen und von Osten zugleich weht, so kann niemand in zwei Zeiten leben.
Es ist Mai, ein durchscheinendes Grün flirrt in den Bäumen, in den Liegestühlen am Berliner Wannsee halten ein paar ganz Mutige ihre Gesichter in die Sonne, die Zufahrtsstraßen zur Reichshauptstadt sind verstopft, pausenlos rollen Militärkonvois in die Stadt, Soldaten sitzen auf den offenen Ladeflächen, viele lächeln und winken, denn sie leben. Ernst wie ein künstliches Altertum streben die Säulen des eingestürzten Reichstags in den Himmel, die nichts zu tragen haben als ein paar Kubikmeter Luft; über dem Portal der Reichskanzlei hängt gefährlich schief der preußische Adler, das Hakenkreuz in den Krallen, und über den Ruinen ein gleichgültiger Himmel.
Zunächst hatte es so ausgesehen, als wäre nur ein Krieg verloren, nicht das Reich. Der deutsche Reichskadaver zuckt im Phantomschmerz, seine ausgebluteten Provinzen sind eine nach der andern von ihm abgefallen, Elsass, Lothringen, das Saarland, Schlesien, Ostpreußen. In panischer Flucht vor der vorrückenden Roten Armee ziehen die Karawanen aus dem Osten über die Landstraßen des Reichs, hochbeladene Pferdewagen, die von Menschen gezogen werden, Ochsengespanne und Handkarren. Nur oben im Norden streckt die mörderische Krake noch ihre Tentakeln aus. Wie Ratten kriechen sie aus ihren Löchern, KZ-Kommandanten, Sturmbannführer, Reichsärzte, SS-Generäle pressen ihre im Dienst fettgewordenen Altmännerärsche in Wehrmachtsuniformen, die noch nach Kampfer riechen, um sich im Schutz der Dunkelheit zur dänischen Grenze durchzuschlagen und die letzten freien Überseehäfen in Norwegen zu erreichen, vorbei an den britischen Posten, bei denen sie sich mit gefälschten Kennkarten als einfache Landser ausweisen, ausgestellt in der Sonderzone Mürwik.
Seit Wochen ankert der Kraft-durch-Freude-Dampfer