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als sollte den Bürgern dieses gleichsam über Nacht verschwundenen Staates jeder Anhaltspunkt genommen werden, an dem ihre Erinnerungen haften könnten, vierzig Jahre ausgelöscht, verflucht im Gedächtnis der Nachkommen, damnatio memoriae, wie die alten Römer das nannten.

      Die Sonne strahlte golden aus einem tiefblauen Himmel, als die Rezeptionistin im Arnoldshof mir den Zimmerschlüssel in die Hand drückte und mit slawischem Akzent zu verstehen gab, dass das Restaurant in der Wintersaison geschlossen sei. Auf dem Gang war niemand zu sehen, wer verirrte sich auch im November in diesen gottverlassenen Winkel der Bucht. Ich stellte meine Tasche ab, schob die Gardine zur Seite, warf einen Blick auf den Hotelparkplatz, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, ich tat alles genau so wie damals im Rheinischen Hof, als könnte durch die Wiederholung der abgerissene Lebensfaden zurück ins Gewebe der Zeit geschoben werden. Das Hotel befand sich an der Peripherie der Stadt, mitten in einem kleinen Dorf, das schon vor Jahren nach E. eingemeindet worden war. Ich beschloss, unterwegs zur Hauptstraße den Umweg über den Tagebau Hambach nehmen, der hier ganz in der Nähe sein musste. Es war sommerlich warm, viel Zeit blieb nicht, in dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter. Ein Hinweisschild behauptete, bis zum Grubenrand seien es nur noch anderthalb Kilometer. Hinter der kleinen weißen Dorfkirche lagen rechts und links Stoppelfelder, ich schwitzte, ich spürte das Gewicht des Körpers in den federnden Kniegelenken, das gleichmäßige Strömen des Bluts durch die erwärmten Muskeln, und trotzdem war in diesem Gehen etwas Stolperndes, eine seltsame Unsicherheit, die mich zwang, alle hundert Meter stehenzubleiben, sodass es für andere so aussehen musste, als betrachtete ich etwas am Feldrand, dabei sah ich angestrengt in mich hinein. Ob noch alles stimmte mit mir. Aber es stimmte natürlich schon lange nichts mehr. Was hätte ich sonst hier zu suchen gehabt, eine Schiffbrüchige, angespült in dieser Bucht am Rand der Nordeifel unter der glühenden Sonne des Klimawandels. Ich zog den Wintermantel aus und hängte ihn über die Schultern; beim Gehen rutschte er immer wieder herunter und landete im Straßenstaub, der feinpulverig und schmierig wie Lehm war.

      Nach zwanzig Minuten endete die Straße an einem leeren Waldparkplatz. Eine Treppe führte über eine steile Böschung zu einer Aussichtsplattform. Ich stieg hinauf, und da war es. Das Loch. Ein gigantischer Trichter, dessen terrassenförmige Abhänge in allen Schattierungen von Ocker bis Saharagelb, Orange und Schiefergrau im Mittagslicht leuchteten. In regelmäßigen Abständen säumten grüne Kästen zwischen Bäumen und Sträuchern den Rand der Böschung, Hagebutten glänzten im staubigen Grün, leichter Wind wie am Meer raschelte in den welken Blättern. Am linken Grubenrand unterbrach ein bewaldeter Buckel die schnurgerade Horizontlinie, über der sich in makellosem Azur die gläserne Kuppel des Himmels wölbte, nur hier und da eingedrückt von den weißen Kuben der Kühltürme. Die andere Seite lag unter einer milchigen Dunstglocke, unter der sich das Ende des Lochs in der Ferne verlor. Auf den höher gelegenen Sohlen des terrassenförmig abfallenden Abhangs bewegten sich ameisenkleine Lastkraftwagen, und ganz unten, auf der tiefsten Sohle gerade noch erkennbar, stand klein wie ein Spielzeug der größte Bagger der Welt.

      Mit ruhiger Präzision hebt und senkt sich die Bettdecke über deiner Brust. Frisch gewaschen, eingecremt und nach Pfefferminz und Veilchen duftend liegst du mit offenen Augen im Bett und greifst ängstlich nach meiner Hand. Schlaf schön weiter, sage ich und suche in meinem Gedächtnis, ob dieses maskenhafte Gesicht mit den steilen Jochbögen und der spitzen weißen Nase mich an jemand oder etwas erinnert. Wir spielen das alte Mutterkindspiel, aber die Rollen sind vertauscht, Anfang und Ende schließen sich zum Kreis. Der Tod, höre ich mich denken, wäre Erlösung. Aber deine vom Schlaf leicht geröteten Wangen sagen etwas anderes.

      Wann hat das eigentlich angefangen, sage ich, dieses Abbaggern von Gegend, Garzweiler, Inden, Erkelenz, Hambach, Hürth, Kerpen, was weiß ich, diese chirurgische Operation an einer ganzen Landschaft, ausgeführt mit der kalten Präzision des Pathologen, tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, wo noch vor fünfzig Jahren das Herz der alten Bundesrepublik schlug, diese alte europäische Kulturlandschaft zwischen Rhein und Maas im ökologischen Exitus, warum war mir das denn nicht schon bei beim ersten Mal aufgefallen, kein Baum und kein Strauch kilometerweit, diese flache Horizontlinie, wie das Kardiogramm eines Sterbenden auf einer Intensivstation, uralte Dörfer, die vor über tausend Jahren als Rodungsinseln in dem riesigen Wald zwischen Köln und Aachen gegründet wurden, Geiseln der Energiewirtschaft, die nun eines nach dem andern der Vorfeldräumung weichen mussten, wie das auf der Internetseite in Konzernsprache hieß, verschwunden in dem großen Loch. Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldne Brücke, der erste nicht, der zweite nicht, der dritte muss gefangen sein. Entweihte Kirchen, abgeholzte Wälder, alte Handelsstraßen, die in diesem gigantischen Krater endeten, verändert bis auf den Grund diese Landschaft, in die ich nach drei Jahrzehnten, nein, nicht zurückgekehrt war, man kann nur zu etwas zurückkehren, das man kennt, sondern eben: noch einmal gekommen. Bis zur Unkenntlichkeit verformt die Bucht mit ihren alten Maiglöckchenwäldern und fruchtbaren Feldern und Weiden, mit Apfelbaumalleen und Dorfweihern, die ich all die Jahre im Kopf mit mir herumgetragen hatte in Ermangelung von etwas, das man wohl Heimat nennt.

      Aber war denn sie, sage ich, die ostwestliche Reisende auf ihrem Aussichtspunkt dreihundertvierzig Meter über dem Abgrund, noch dieselbe Person wie damals auf ihrer Winterreise, und musste sie nicht genau in diesem Moment, bei ihrer zweiten Ankunft, und zwar zu ihrer eigenen Überraschung, feststellen, dass nicht nur sie es war, die sich verändert hatte, sondern genauso und noch mehr diese uralte Landschaft mit ihren Dorfangern und Löschteichen und Rübenäckern? Keine Rückkehr also, das war es nicht, aber was war es dann, sage ich, das mich an diesem sommerlich heißen Novembertag noch einmal in die alte Heimat verschlagen hatte. Ein Abschied hatte es werden sollen, ein Lebewohl, stattdessen war da jetzt dieses Loch, der Fußabdruck eines gigantischen Raubtiers, sechs Kilometer breit, acht Kilometer lang, fast vierhundert Meter tief, sodass es also diesen Ort nun zweimal gab, als Erinnerung und als Un-Ort. Was ich verloren hatte, war unwiderleglich und für immer als Verlust sichtbar, war Landschaft geworden.

       Wabi-Sabi

      Es ist kühler geworden, die Schatten verdichten sich, immer tiefer sinke falle stürze ich hinab, zum Ursprung der Wörter, ich bin zurückgekommen, aus meinem verschwundenen Land in die missglückte Heimat, doch wie weit ich auch komme, steht mir das Kind im Weg, das nach sich fragt, das vergessene Kind, zwischen der Erinnerung und dem Text, der ihm nachruft, mäandernd zwischen dem Körper der Schrift und dem Begehren nach einer lebendigen Berührung, rückwärts durch die Zeit graviere ich mich in die Haut der Erde, ich bin noch nicht geboren, nichts deutet auf einen Ursprung oder Anfang, ich bin das ungeborene Kind, das Kind ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, das vergessene Kind, auf seinem Fahrrad biegt es Richtung Angelsdorf ab, hinter den letzten Häusern springt es vom Rad, wirft die Sandalen in den Sand, rennt barfuß übers Feld, die Halme pieken, sie bohren sich schmerzhaft in die Fußsohlen, es ist schön, auf dem Heuturm zu sitzen und den Schmerz zu fühlen und die Hitze auf der Haut, und unter sich die goldglänzenden Stoppeln zu betrachten und über dem Wald der Wolkenatem der Kühltürme, du darfst vergessen, sagt das Kind, du bist nicht wirklich hier, ich erinnere mich an alles, ich bin, die du nie warst, ich bin der Text, der sich selber schreibt, ich schreibe mit kölnischem Umbra, mit meiner Kopfschrift Gedankenschrift Wolkenschrift schreibe ich an gegen die Diktatur der Zeit.

      Hier ist die Grenze, das känozoische Ufer des Jetzt.

      Eine dicke Stubenfliege taumelt seit Stunden im Kreisflug um die Deckenlampe, rast steil hinauf, stößt sich an Fensterleibungen, Schränken, Glasscheiben, ruht für Minuten aus, um erneut aufzusteigen, ich gehe in die Küche, um ein Stück Würfelzucker zu holen; früher sollen die Bauern auf diese Art ihre Fliegen durch den Winter gebracht haben. Es ist kein Würfelzucker da, also streue ich etwas losen Zucker auf die Untertasse und nehme noch zwei Stück weißen Kandis mit. Als ich zurück in dein Zimmer komme, ist alles ruhig. Von der Fliege keine Spur. Ich frage mich, ob sie von draußen kam oder schon den ganzen Winter, in einem Fensterspalt versteckt, mit uns gelebt hat. Die milde Luft irritiert sie vielleicht. Seit Tagen fliegen Wildgänse in Formationen über das Haus, eigentlich Zeichen des nahenden Frühlings. Aber der Wetterbericht sagt für das Wochenende die nächste Kälte voraus.

      Im Grunde liegt

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