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als Zuschauerin dastehen, sondern sich am estnischenEstland/Estoniaestnisch Leben aktiv beteiligen und auch die estnischeEstland/Estoniaestnisch Sprache lernen. Diese Sprache entpuppt sich aber als schwierig. Des Weiteren entdeckt sie, dass es ihr zwar leicht fällt, etwa unter Kollegen neue Bekanntschaften zu finden, aber es ist für sie als eine eher verschlossene Person schwierig, wirklich tiefe und bedeutende Freundschaften zu schließen (H, 117). Deshalb bleibt sie bis zum Ende ihres Aufenthalts in Tallinn eher Außenseiterin, die das dortige Leben mit innerer Distanz betrachtet. Sie gibt zu, dass sie nach wie vor politischPolitik/politicspolitisch/political interessiert ist, doch betreffen sie die Ereignisse in ArmenienArmenien und RusslandRussland viel näher als die in EstlandEstland/Estonia (H, 105). Gleichzeitig erkennt und akzeptiert sie sowohl ihr kulturelles Anderssein als auch ihre kulturell hybrideHybriditäthybrid IdentitätIdentität/identity: Ihre MutterspracheMuttersprache/mother tongue ist armenischArmenienarmenisch, doch hat sie (wie auch Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar selbst) eine russischeRusslandrussisch Schule besucht und empfindet deshalb RussischRusslandRussisch/Russian als die Sprache des intellektuellen Austausches und des Selbstausdrucks: „Wenn es notwendig war, Gedanken und Überlegungen zu verbalisieren, ging sie unbewusst zur russischenRusslandrussisch Sprache über“ (H, 106). Sie ist sich dessen bewusst, dass die Esten diese Sprache am Ende der sowjetischenSowjetunionsowjetisch/Soviet Okkupation als „die Sprache des Feinds“ empfinden, aber für sie ist RussischRusslandRussisch/Russian Sprechen wie ein „intellektueller Orgasmus“ (H, 107). Vor dem Hintergrund einer anderen Kultur versteht sie auch, dass sie Kosmopolitin ist, die sich für Opernmusik, klassische Literatur, russischesRusslandrussisch Theater und die Philosophie AsiensAsien interessiert. Also kann man behaupten, dass die Heldin nach einem anfänglichen Kulturschock wieder einen Weg zu sich selbst findet und ihr Wesen als Ausdruck eines transdifferenten Daseins akzeptiert.

      Dieses Moment des Sich-Anerkennens als Träger von zweien oder mehreren Kulturtraditionen kommt auch in der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig interkulturelleninterkulturell Literatur zur Sprache, Zafer ŞenocakSenocak, Zafer hat diese Empfindung wie folgt formuliert:

      Denn seitdem ich DeutscherDeutschlandDeutsche bin, kümmere ich mich viel stärker um mein türkischesTürkeitürkisch Potential und habe aufgehört, darin einen Widerspruch zu sehen. Im Gegenteil: Die Bikulturalität ist ähnlich wie Bisexualität keine Perversion. Sie ist eine völlig legitime Verhaltens- und Lebensweise, von der eine Person nur profitieren kann, wenn sie nicht verstohlen und verschämt gelebt wird, sondern offensiv und selbstbewusst. (ŞenocakŞenocak, Zafer 2011: 90–91)

      3 Zur Funktion der MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in Gohar Markosjan-Käsper Markosjan-Käsper, Gohars Romanen „Helena“ und Penelopa

      Die hybridenHybriditäthybrid/globalen IdentitätenIdentität/identity können sich in Phänomenen wie (literarischer) MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit und Mehrfach-IdentitätenIdentität/identity manifestieren. Die Mehr- und VielsprachigkeitVielsprachigkeit sollten in diesem Fall als nichts Exotisches, sondern als etwas Natürliches betrachtet werden (Ernst 2019: 92–93). Je nach Bedarf können in einem Text verschiedene Sprachen nebeneinanderstehen. In der jüngeren Forschung benutzt man für solche Texte auch den Begriff „exophoneExophonieexophon/exophonic Literatur“, das ist Literatur, die in einer ZweitspracheZweitsprache geschrieben worden ist, jedoch dennoch Spuren einer ersten Sprache aufweist und diese thematisiert. Dies kann auf rein linguistischer Ebene stattfinden, doch können auch Mittel wie code-switchingcode-switching oder indirekte ÜbersetzungÜbersetzung/translation in der Zweitsprache ganz neue, kreative Räume öffnen und stilistische Register schaffen (Wright 2008: 39–40).

      Die Wurzeln einer solchen Betrachtungsweise liegen jedoch wohl bei dem sogenannten postmodernPostmodernepostmodern turn um die 1980er Jahre, der die traditionelle Zeit- und Raumauffassung relativierte. Statt über eindimensionale Assimilationsmodelle sprach man über multidimensionale (darunter auch multilingualeMehrsprachigkeitmultilingual) Bewegungen zwischen Geburtsland und Aufenthaltsland (Jürgenson 2016: 95; Darieva 2007: 78–79). Das heißt, die IdentitätIdentität/identity ist nicht geographisch-kulturell determiniert, sondern oft gebunden an soziale InteraktionInteraktion und an die Bewegung zwischen unterschiedlichen Diskursen (Martinez Guillem 2015: 3–4). So kann die Literatur zu einer Manifestation von verschiedenen Sprachen und Kulturen werden. Dembeck und Parr etwa sehen den Vorteil einer solchen Betrachtungsweise darin, dass man dadurch den (literarischen) Text selbst in den Fokus nimmt und ihn nicht mehr von textexternen Faktoren wie der MigrationserfahrungMigrant/inMigrationserfahrung aus betrachtet (Dembeck/Parr 2017: 9–10). Diese Betrachtungsweise ermöglicht auch, bestimmte Vorurteile oder Erwartungshaltungen, die das Deuten eines Textes (leider) des Öfteren beeinflussen, beiseite zu lassen.1

      Doch wie zeigt sich MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in einem literarischen Text bzw. wie qualifiziert sich ein Text als „mehrsprachigMehrsprachigkeitmehrsprachig“? Laut Dembeck und Parr können wir über die explizite Mehrsprachigkeit reden, wenn in einem Text Segmente aus diversen Sprachen nebeneinanderstehen, so dass die unterschiedlichen IdiomeIdiom klar voneinander unterscheidbar sind (Dembeck/Parr 2017: 10). Auch Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar verwendet in ihren Romanen neben der russischenRusslandrussisch bruchstückartig auch andere Sprachen (etwa das ArmenischeArmenienarmenisch), um spezifische Erscheinungen, wie z.B. bestimmte Speisen, zu markieren: „[…] was jeder so draufhat, der eine die ewigen adschapsandal2 und boschbasch3, der andere Rührei mit Wurst und Salzkartoffeln“ (P, 175). Auch bei Begriffen, die bestimmte kulturelle Konzepte in sich tragen, keine exakte Entsprechung in anderen Sprachen haben und deshalb unübersetzbarÜbersetzung/translationunübersetzbar sind, verwendet sie den Originalbegriff aus der anderen Sprache: „Der Mann soll sich vom ersten Tag an als Hausherr fühlen. Und das ist bei diesen Schwiegereltern nicht möglich. Aus einem tanpessa4 kann doch nur ein Gnadenbrotempfänger werden.“ (P, 215). Des Weiteren finden sich in ihren Büchern Überschriften, Buchtitel oder explizite ZitateZitat auf ArmenischArmenienarmenisch, etwa „Der Schöpfer des einzigartigen Verses ‚Aschnan mscheschum schrschuk u scherschjun‘5 und kommunistisches Geschrei, Gelärm, Gefeuer?“ (P, 61–62).

      Weiterhin wird in dem literarischen Werk eine andere Sprache eingesetzt, um zu explizieren, dass eine Person eine FremdspracheFremdsprache spricht, um die Eigenartigkeit des fremdsprachlichenFremdsprachefremdsprachlich Sprechens zu unterstreichen (Dembeck/Parr 2017: 10). Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar benutzt beispielsweise in Helena estnischeEstland/Estoniaestnisch Wörter und Wendungen, um mit diesen typische kulturelle Verhaltensweisen zu illustrieren. „Sie behandelte […] eine ältere schwatzhafte Russin, die immer nach drei Worten das estnischsprachige ‚kurat‘ hinzufügte, […] und einen estnischenEstland/Estoniaestnisch jungen Mann, der außer ‚tere‘ und ‚head aega‘6 kein einziges Wort in keiner Sprache sagte“ (H, 131). Illustriert werden hier sowohl die Wortkargheit der Esten als auch bestimmte Sprechweisen der Nicht-Esten, die die LandesspracheLandessprache nicht besonders gut beherrschen.

      Thematisiert wird auch die estnischeEstland/Estoniaestnisch SprachpolitikSprachpolitik nach der Wende. 1995 trat nämlich das neue Sprachgesetz in Kraft, womit der Sonderstatus des RussischenRusslandRussisch/Russian als obligatorische Sprache der AmtskommunikationKommunikation aufgehoben und EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian als offizielle Staatssprache festgelegt wurde (RT I 1995, 23, 334). Für viele Nicht-Esten bedeutete dies, dass sie eine neue Sprache erlernen mussten. In Helena kommentiert der Erzähler dies wie folgt: Menschen, die ihre HeimatHeimat verlassen, um ein besseres Leben zu finden (dazu habe gewisserweise auch Helena gehört), sind bereit, neue Regeln und eine neue Sprache zu lernen. Diejenigen aber, die sich „mit ihrem Haus, ihrer Arbeit und ihren Gewohnheiten“ (H, 95) plötzlich in der unabhängigen Republik EstlandEstland/Estonia fanden, wollten kein EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian lernen:

      Drittens, guter Leser, wenn ein Provinzbewohner nach Rom zog, dann wurde natürlich von ihm erwartet, dass er römische Sitten befolgt, – doch wer hat von einem Römer erwartet, wenn er in einem fernen Gebiet des Imperiums ankam, dass er etwa nach den Sitten der Chaldäer lebt? Das Bewusstsein des Imperiums ist langlebiger als das Imperium selbst. (H, 95–96)

      Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass „die meisten JudenJude/Jew und ArmenierArmenienArmenier EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian schnell gelernt haben.

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