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mit ihrem schweren Duft, und der Löwenzahn schleuderte mit jedem Windstoß kleine Fallschirme durch die Felder. Überall schimmerte das Scharbockskraut in den Gräben gelb, die Kirschbäume verstreuten weiße Blüten, die Amseln sangen ihr Jubellied, die ganze Schöpfung erwachte zu neuem Leben.

      »Wo ich auch hinschaue, der Anblick ist ein Gedicht!«, sagte Jasmin laut zu sich selber.

      Kebworth Place mit seinen warmen, hellbraunen Mauern, seinen ausgedehnten Außen- und Nebengebäuden, seinem Park und seinen Feldern galt in der Tat als Kleinod unter den Herrenhäusern des Adels in Nordengland, war aber kein Prunkstück. Zwei bescheidene Stockwerke ließen es eher wie ein großes Gutshaus aussehen als wie ein Schloss. Mit seinem Vermögen hätte Lord Devreux das fürstliche Chatsworth House mehr als dreimal übertreffen können, meinten benachbarte Gutsbesitzer, die über Lord Medways anspruchslosen Lebensstil gerne und oft lästerten. Die Familie Devreux besaß in der Tat keine unschätzbaren Rembrandt-Gemälde, keine exotischen Springbrunnen oder prunkvollen Ballsäle, mit denen sie hätten prahlen können, auch wenn diese Statussymbole für sie mehr als standesgemäß gewesen wären. Die Dienerschaft war klein und ihr Lord dafür bekannt, lieber Jugendlichen aus den Dörfern in der Ernte- und in der Lammungszeit Arbeit zu verschaffen, als einen fürstlichen Haushalt nur mit dem Ziel zu führen, andere Menschen zu beeindrucken. Böse Zungen behaupteten daher seit Jahrzehnten, der Lord sei in Wahrheit auf dürre Zeiten gestoßen, wolle dies aber nicht offen zugeben.

      »Zufriedene Pächter sind das kostbarste Gut, das ein Gutsbesitzer vorzeigen kann«, sagte Lord Medway in aller Gelassenheit, wenn er schon wieder gefragt worden war, ob er nicht etwas von seinem Vermögen in diese oder jene teure zeitgemäße Anschaffung investieren wolle. Seine Bauersleute seien nach den langen Kriegen gebeutelt genug, war stets seine Antwort. Lieber sorge er dafür, dass ihre Dächer in den Winterstürmen dicht blieben und ihre Wände keinen Schimmel hätten, als dass er sein Haus mit Samt und Gold ausstattete.

      In Grübeleien versunken, streichelte Jasmin nun den Stein des Fenstersimses mit einem Zeigefinger.

      »Ich werde jeden Stein von dir vermissen, mein liebes Kebworth«, flüsterte sie. »In London saugen die Steine Staub und Rauch aus der Luft auf und werden im Nu grau und farblos. Backsteinmauern, die früher rot waren. Hier saugen die Steine pure Sonne und schimmern einladend warm. Je älter sie werden, desto mehr schmiegen sie sich in die Landschaft, als ob sie mit den Pflanzen zusammen aus dem Boden gesprossen wären. Wenn ich euch nur mitnehmen könnte!«

      Sie tätschelte den Fenstersims mit einer Hand, seufzte und widmete sich wieder ihrem Brief.

      Wo ich auch hingehe, sehe ich dich in meinen Träumen vor mir, spüre deine zarte Hand auf meinem Arm.

      Ein lautes Bellen draußen unterbrach ihre Lektüre.

      »Hey, Julius! Hierher! Komm hoch!«

      Sie drehte sich wieder zum Fenster und klatschte in die Hände.

      »Bring Vater gleich mit!«

      Ein riesiger Jagdhund sprang um die Ecke auf den Rasen. Ein Bediensteter hechelte ihm hinterher.

      »Gilbert!«, rief Jasmin hinunter. »Ich dachte, Vater wollte heute ausreiten und Julius mitnehmen!«

      »Wollte er, Mylady«, rief Gilbert hoch, »aber er hat über Müdigkeit geklagt. Ich habe Mrs Simmons in seinem Auftrag die Medikamente gebracht!«

      »Das hätte er dir von vornherein auftragen sollen. Was hat Vater bloß bei der alten Mrs Simmons zu suchen, wenn sie krank ist? Er könnte sich doch anstecken, so anfällig wie er für jede kleine Grippe ist!«

      »Er besteht darauf, Mylady!«

      Kratzgeräusche vom anderen Ende des Zimmers zogen Jasmin vom Fenster weg. Sie öffnete die Tür, und der große Hund sprang ihr freudig in die Arme, leckte ihr Gesicht und wedelte energisch mit dem Schwanz.

      »Boah, Julius! Runter mit dir! Du begrüßt mich, als ob ich gerade von London zurückgekommen wäre, dabei bin ich schon vier Monate wieder zu Hause! So scharf, wie deine Nase ist, könntest du mich sogar von London aus wittern, nicht wahr?«

      Sie kraulte seine Ohren, rieb seine Schnauze und deutete auf seinen Platz unter ihrem Schreibtisch. Danach ließ sie sich in ihrem Sessel nieder und griff wieder nach dem Brief.

      Bei jeder Abendgesellschaft fliegst du mitten in meine Gedanken hinein, und alle Köpfe drehen sich nach mir um und beneiden mich um mein Glück. Ich werde stolz auf dich sein. Um dich zu lieben, braucht ein Mann nicht viel an Vorstellungskraft.

      Du schreibst, dass du befürchtest, mit den Gesellschaftsdamen Londons nicht mithalten zu können und dass deine ländlichen Sitten auffallen werden. Da muss ich laut lachen, meine Liebe! Gerade deine mädchenhafte Bescheidenheit macht dich unwiderstehlich.

      »Das würde Ellen aber anders sehen«, murmelte Jasmin beim Lesen.

      Du vergisst, dass ich derjenige bin, der Angst wegen meines Ansehens haben muss. Ich bin hier der Aufsteiger, der fürchten muss, dir und der feinen Gesellschaft nicht ebenbürtig zu sein. Und dass du weder Klavier spielst noch singen noch Gedichte verfassen kannst, stört mich nicht im Geringsten. Künstlerische Fertigkeiten sind nicht das, was ich in einer Frau suche, sondern Witz, Charme, Anhänglichkeit, Belehrbarkeit, Warmherzigkeit, Schönheit. Und diese Eigenschaften besitzt du in Fülle. Nach Kebworth werden wir reisen, so oft du möchtest. Und wenn Kebworth unser Hauptsitz werden soll, dann sei es so. Wir leben dort, wo du leben möchtest. Die Geschäfte hier in London laufen immer besser, auch ohne mich, sodass ich beweglicher bin und mehr Zeit für Muße habe.

      Jasmin faltete den Briefbogen zusammen, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und ließ Bilder durch ihren Kopf treiben. War es wirklich mehr als ein Jahr her?

      Hubertus Argyle, der junge Berichterstatter des damals unbekannten Blattes Argyle & Johnson, war in dem ländlichen, abgelegenen Dorf von Thistle Grove aufgetaucht – und hatte ihr Leben im Handumdrehen auf den Kopf gestellt. Ein Leben ohne ihn war seitdem undenkbar geworden. Was hatte sie in ihrem Leben überhaupt gemacht, bevor er jeden Gedanken in ihrem Kopf im Sturm erobert hatte? Womit hatte sie ihre Tage gefüllt?

      Welche düsteren Töne lese ich aus deinen Zeilen heraus?, las sie nun weiter.

      Ich hätte dir gar nicht erzählen sollen, dass der berüchtigte Marvin Fellham wieder zugeschlagen hat. Das darf deinen hübschen Kopf nicht belasten. Diesen Schurken haben wir bald hinter Gittern. Ich freue mich auf den Tag, an dem Argyle & Johnson als erste Zeitung berichtet, wie dieser Mörder zum Galgen marschiert. Eine griffige Schlagzeile dazu habe ich schon als Entwurf in meinem Kopf.

      Jasmin hörte auf zu lesen. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. Julius knurrte und schlich sich auf allen vieren zu dem Sessel hin, in dem seine Herrin saß. Er drückte seine Schnauze an ihre Knie und blickte ihr ins Gesicht. Jasmin kraulte seine Ohren und lachte.

      »Es ist, als wenn du meine Gedanken lesen könntest, du alter Bengel«, sagte sie. »Aber irgendwann freundest du dich mit meinem Verlobten auch noch an und lernst, nicht jedes Mal wenn ein Brief kommt, so eifersüchtig zu sein.«

      Julius klopfte mit dem Schwanz auf den Teppich, hechelte und legte sich auf Jasmins Füße.

      »Aber ich weiß, du meinst es ja nur gut«, fügte sie hinzu. Ihr Herz schlug höher, als Hubertus’ Beteuerungen seiner Leidenschaft für sie immer detaillierter wurden. Er, ein weltgewandter, bodenständiger Geschäftsmann des Londoner Presseviertels, verwandle sich in eine weiche Turteltaube, wann immer er an sie denke, schrieb er. In ihrer Fantasie fühlte sie wieder seine starken Arme um ihren Körper, drückte ihr Gesicht gegen seine warme Brust, hörte seinen Herzschlag und spürte seine sanften Finger in ihren Haaren. Männlichkeit verbunden mit Zärtlichkeit. So hatte er ihr Herz gefangen genommen, so würde er weiterhin ihr Herz erobern. Der Brief duftete nach Pomade.

      Ihre Träume wurden von Tritten auf der Treppe im Gang unterbrochen. Jemand klopfte an die Tür. Julius sprang auf und bellte. Es war Ellen mit dem Nachmittagstee.

      »Na, gute Nachrichten aus London?«,

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