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Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
Читать онлайн.Название Flucht nach Mattingley Hall
Год выпуска 0
isbn 9783775175159
Автор произведения Nicola Vollkommer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Parsons schüttelte den Kopf.
»Nein, muss vor Stunden gewesen sein. Weit und breit keine Spuren. Erst recht nicht bei diesem Sauwetter. Lohnt sich kaum, den Mord zu untersuchen. Das Ergebnis wird das übliche sein.«
Die zwei Männer berieten noch eine Weile miteinander, verschwanden kurz und kehrten mit einem Schubkarren und einem Sack zurück. Dann wickelten sie die Leiche in den Sack, hievten sie in den Karren, und Parsons schob ihn davon.
Der Oberwachtmeister nahm seinen Helm ab, schüttelte ihn und gähnte, bevor er ihn wieder auf den Kopf setzte. Ein Mord. Immerhin eine Abwechslung. Das Aufregendste, was eine Streife in einem Vorort von London bei Nacht sonst zu sehen bekam, war eine Schlägerei von ein paar Besoffenen. Zu einer großen Fahndung würde es nicht kommen. Der tote Mann war ein Niemand, das war an seiner abgetragenen Kleidung ersichtlich. Ein paar Tageblätter informieren, am nächsten Tag Fragen beantworten, mit einem Kopfschütteln betroffene Sprüche von sich geben, nüchtern, seriös wirken und die Bevölkerung beruhigen, damit war es getan. Es würde nicht lange dauern, bis neue Schlagzeilen diese verdrängten und das arme Opfer nichts mehr als eine kleine Notiz in einer Polizeiakte wäre.
»Gute Laune, was, Mr Argyle? Federleicht in den neuen Tag trotz der Feuerwerke gestern? Liegt wohl nicht nur daran, dass die Sonne nach dem Schneeregen ihr Gesicht wieder zeigt! Und wann dürfen wir Sie als Lord Devreux begrüßen?«
Ein junger, hochgewachsener Mann in Gehrock und Zylinder war gerade frohen Mutes die lange Steintreppe herabgesprungen, die den Haupteingang eines hohen Gebäudes mit der Straße verband. Er wirbelte seinen Spazierstock durch die Luft, summte vor sich hin und tippte an seinen Zylinder vor dem Passanten, der ihn gerade begrüßt hatte.
»Nicht zu voreilig mit dem Lord Devreux, Mr Barnsby«, sagte er. »Ich habe mich gerade erst verlobt. Aber Grund zur Freude habe ich allemal. Sonne draußen und Sonne drinnen. Sie haben Ihre Zeitung schon geholt, wie ich sehe. Argyle & Johnson weiß eben immer als Erstes Bescheid!«
»Unglaublich, Sir! Sie machen Ihrem Leitspruch alle Ehre! Und füllen die Seiten mit pikanten Nachrichten, obwohl die Franzosen uns keine Metzeleien mehr liefern, über die Sie berichten können.«
Mr Barnsby stieß mit einem Finger auf das vordere Blatt der Zeitung, die er in die Höhe hielt.
»Marvin Fellham schlägt wieder zu«, las er vor. »Es geschieht ein Mord, und zack, Sie bringen alle Einzelheiten, noch bevor die Leiche kalt ist. Mit Kupferstich. Wenn ein Bild dabei ist, schauen wir einfacheren Leute gleich schneller hin. Alle Zeitungen sind unten am Markt schon weggekauft. Ich hatte Glück, noch eine zu bekommen!«
Mr Argyles Augen leuchteten kurz auf, dann blickte er zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Wenn die Berichterstattung eines Mords Erfolg bringt, dann bleibt die Freude gedämpft, Mr Barnsby. Trotzdem beklagen wir uns nicht, wenn wir die Auflagen schon wieder aufstocken müssen. Aber nun darf ich mich erfreulicheren Themen zuwenden und wünsche Ihnen einen guten Tag.«
Er tippte noch mal an seinen Zylinder. Der Hauptsitz von Argyle & Johnson, den er gerade verlassen hatte, verbarg sich hinter einer unscheinbaren Fassade, die eher einer Fabrikhalle glich als der Zentrale einer jener führenden Zeitungen, die in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts aus dem Boden Londons gesprossen waren. Unter dem Schatten der eindrucksvollen gewölbten Kuppel der Kathedrale von Sankt Paul wetteiferten namhafte Blätter wie die Times, der London Star, die Mayfair Gazette und der Courier um die Gunst der Leser. Sie alle warfen neidische Seitenblicke auf die üppigen Umsätze von Argyle & Johnson, eine Zeitung, die sich auf dem besten Weg befand, jedes andere Blatt in den Schatten zu stellen.
Mr Argyles Summen ging in ein fröhliches Pfeifen über. Er hätte eine Kutsche herwinken können, zog es aber heute vor zu laufen.
»Zu viel aufgestaute Freude«, hatte er lachend zu seinem Sekretär gesagt, bevor er das Haus verlassen hatte. »Ich brauche Bewegung!«
Als er die Kirche von St. Bride’s passierte, murmelte er ein »zu klein für uns« vor sich hin. »Mindestens die St.-Pauls-Kathedrale. Für eine so bekannte Adelsfamilie gerade gut genug. Vielleicht sogar Westminster Abbey.«
Er überkreuzte die Farrington Street und lief auf den Ludgate Hill zu. Mit Genugtuung nahm er wahr, wie viele Passanten aufgeregt miteinander redeten und mit dem Finger auf ihn zeigten, als sie seine hochgewachsene Statur erblickten. Viele drehten ihren Kopf zu ihm um, um ihm nachzusehen.
Er blieb am Eingang eines unscheinbaren Gasthauses stehen und warf einen Blick auf die Uhr an dem Kirchturm auf der anderen Straßenseite, bevor er das Haus betrat.
»›Der Pflug und der Karren‹, lustiger Name für eine Schenke mitten in einem brodelnden Handelsviertel. Wie die Zeiten sich ändern«, dachte er beiläufig. »Vermutlich ein Überbleibsel aus der Zeit, in der von Schlamm und Kuhfladen verkrustete Bauernstiefel hier ein und aus gingen und nicht die feinen, auf Hochglanz polierten Lederstiefel der Gentlemen von den Börsen und den Kolonialverwaltungen Londons.«
Noch bevor sich seine Augen an den dämmerigen Raum gewöhnt hatten, trat ein älterer Mann mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Er trug einen Gehrock aus feiner Wolle, darunter eine Samtweste, aus deren Tasche eine Uhr an einer edlen Goldkette hing. Er war groß genug, um Mr Argyle auf Augenhöhe zu begegnen. Silberne Strähnen in seinem ergrauenden dunklen Haar verrieten jedoch, dass er seine besten Jahre schon hinter sich hatte.
»Mr Hubertus Argyle! Pünktlich wie die Uhr! Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Sie haben hoffentlich dafür Verständnis, dass ich Sie in dieses bescheidene Gasthaus gebeten habe, ohne Prunk und Dienerschaft, anstatt im angemessenen Stil in den ›Gentleman’s Club‹ in Mayfair? Ich wollte für diese Unterhaltung die Öffentlichkeit vermeiden.«
Mr Argyle nahm seinen Zylinder ab und verbeugte sich, bevor er die ausgestreckte Hand des älteren Mannes in seine beiden Hände nahm und sie herzlich drückte.
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Lord Medway. Sie sind viel zu gütig. Sie vergessen, dass ich in den bürgerlichen Gaststätten Londons sehr zu Hause bin.«
»Wer Sie kennt, würde nie auf den Gedanken kommen, dass Sie nicht in den vornehmsten Häusern Londons groß geworden wären, Mr Argyle. Ein makelloses Auftreten in jeder Hinsicht. Meine Komplimente.«
Lord Devreux führte den jüngeren Herrn zu zwei Ledersesseln, die sich an einem niedrigen Tisch in der Ecke des Raumes befanden, und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. Er setzte sich ihm gegenüber. Nachdem er eine Kanne Kaffee bestellt hatte, beugte er sich nach vorne und starrte auf den Tisch. Einige Augenblicke lang fuhr er mit dem Zeigefinger über die Ritzen des alten Eichenholzes und schien in Gedanken versunken zu sein. Schließlich legte er die Fingerspitzen beider Hände aneinander und seufzte.
»Sie sind nachdenklich, Mylord«, sagte Mr Argyle. »Sind die Festlichkeiten gestern nicht zu Ihrer Zufriedenheit verlaufen? Sie haben sich früh zurückgezogen. Sie haben das Feuerwerk verpasst.«
»Das Fest hat mich vollkommen zufriedengestellt, Sir. Ich war nur etwas müde«, antwortete der ältere Mann. Er hob seinen Kopf und blickte Mr Argyle an. »Im Gegenteil. Das hervorragende Niveau der Feierlichkeiten, die Sie uns zu Ehren veranstaltet haben, überzeugen mich ein für alle Mal, dass meine Tochter sich hier in London in Kreisen bewegen wird, die ihrem Stand und ihren Lebensgewohnheiten entsprechen.«
Mr Argyle setzte an, um ihn zu unterbrechen, aber Lord Medway hielt eine Hand hoch, um ihn zu bremsen.
»Ich bin noch nicht fertig, Sir. Ihre Eltern, mögen sie in Frieden ruhen, wären stolz auf Sie, Mr Argyle. Die Adligen jammern, dass meine Tochter unter ihrem Stand heiraten will, aber ich sehe das anders. Wir, die wir in den Adel hineingeboren wurden, haben Reichtum durch Glück und Zufall geerbt. Sie haben sich Ihren Reichtum erarbeitet