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Ein wenig nach Verwesung?

      Auf dem Weg zum Büro der Centerleiterin schauderte sie innerlich.

      »Nein, zwischen den auf der Insel Geborenen und den Zugezogenen besteht ganz sicher keine Kluft«, stellte Inger-Margrethe Jörgensen fest. »Ohne die Zuzügler wäre die Insel mehr oder weniger entvölkert. Im Schnitt kommen wir jährlich auf eine Kindstaufe und fünfzehn Begräbnisse. Über ein Drittel der Inselbewohner sind Pensionäre. Wir veranstalten Willkommensfeste und bemühen uns, die Zuzügler bei allem, woran sie Interesse haben, sofort einzubeziehen. Nein, Integrationsprobleme haben wir keine.«

      Außer den Kampagnen, die sich an potentielle Zuzügler richteten, kämpfte der Inselverein auch für die erneute Aufstockung der Schule auf sieben Klassen. Und um die Insel für das Wirtschaftsleben interessant zu machen: »Die Aussichten für Nischenproduktionen sind ausgezeichnet. Außerdem haben wir eine Liste über Möglichkeiten finanzieller Unterstützung von Unternehmensgründungen ausgearbeitet.«

      Karin wolle auch etwas über die ureigene Inselkultur hören?

      »Es stimmt, dass es sich um ein kleines Gemeinwesen handelt, dass viel geredet wird und wir viel über einander wissen. Andererseits sind wir sehr tolerant. Wir haben alle das Recht, hier zu sein. Es gehört schon viel dazu, dass jemand hier nicht akzeptiert wird.«

      »Man muss zum Beispiel Satanist sein«, warf Karin ein, die noch nicht wusste, dass Wolf am Vormittag gefeuert worden war.

      »Werden Sie darüber schreiben? Ich glaube, er war mit der Kündigung ganz zufrieden.«

      Inger-Margrethes Stimme war ein wenig schärfer geworden.

      »Kündigung?«

      »Ach so, Sie haben es offensichtlich noch nicht gehört. Aber unter den Alten, von denen viele überzeugte Christen sind, hatte sich eine gewisse Unruhe breit gemacht, und ein Angehöriger hatte sich beschwert. Deshalb haben wir das Beschäftigungsverhältnis heute aufgelöst.«

      »Aha. Steht die Kündigung in irgendeinem Zusammenhang mit dem Zwischenfall bei dem Begräbnis neulich?«

      »Überhaupt nicht, und zu diesem Zwischenfall gebe ich auch keinen Kommentar«, sagte Inger-Margrethe Jörgensen bestimmt.

      Was für eine sonderbare Reaktion, dachte Karin. Tante Agnes hatte erzählt, dass gerade Inger-Margrethe Jörgensen sich über den Todesfall gewundert hatte. Das konnte loses Institutionsgerede sein, doch fasste Karin ihr allzu schnelles »kein Kommentar« als Bestätigung auf, dass irgendetwas nicht stimmte.

      Sie wechselte das Thema. Wollte auch etwas über die verschiedenen sozialen Schichten auf der Insel hören – gab es irgendwelche Spannungen zwischen ihnen?

      »Klassenunterschiede hat es hier auf der Insel nie gegeben!«, antwortete Inger-Margrethe Jörgensen mit Nachdruck.

      »Aber es besteht doch wohl ein Unterschied zwischen einem Sozialhilfeempfänger und einem Großbauern?«, wandte Karin ein.

      »Nun ja, so viele Bauern gibt es heute nicht mehr. Eigentlich gibt es nur noch drei größere Höfe und niemand von uns spinnt Gold. Sicher bestehen Unterschiede im steuerpflichtigen Einkommen der Leute, aber wenn es um das allgemeine Ansehen geht, das hängt ausschließlich von der Persönlichkeit ab.«

      »Ein gutes Prinzip«, kommentierte Karin, die gerne ein wenig Entgegenkommen zeigen wollte.

      Als Vorsitzende ist es ihre Pflicht, das Inselleben so rosig wie möglich zu zeichnen, dachte Karin auf dem Weg nach Sönderby, wo der Arzt weit draußen auf der Landspitze eine Villa bewohnte. Keine Klassenunterschiede, Skejø, das Paradies auf Erden, leck mich am Arsch!

      Die längliche, leicht nierenförmige Insel war an der längsten Stelle nur sechs Kilometer lang und ihre 600 Einwohner konnten sich auf 16 Quadratkilometern ausbreiten. Die meisten wohnten in Nordby und Sönderby oder an der Hauptstraße, die beide Städte miteinander verband und von Norden nach Süden von einem Ende der Insel zum anderen führte. Der Rest wohnte an Seitenstraßen, die von der Hauptstraße abzweigten und zum Wasser führten. Es hieß, dass niemand mehr als 1000 Meter vom Wasser entfernt wohnte.

      Der Fährhafen lag in Nordby, ebenso wie das Fliederhaus von Tante Agnes. Das Altenheim, wo auch der Arzt seine Sprechstunde hatte, lag mitten auf der Insel und auf der anderen Seite der Straße war die Grundschule mit ihren drei Klassen und dem Heimatmuseum im Keller.

      Als Karin an der Schule vorbeikam, fiel ihr ein, dass sie eigentlich auch mit dem Lehrer sprechen und das Museum besuchen musste, bevor sie ihre Artikel schrieb. Ja, Recherchen hatten grundsätzlich die Tendenz, an Umfang zuzunehmen, aber noch hatte sie reichlich Zeit.

      Der Arzt Jörgen Wad war viermal verheiratet gewesen und hatte mit jeder Frau zwei Kinder. Er war kein Don Juan im eigentlichen Sinne, sondern nur ein freundlicher Mann, der tat, was die Frauen ihm sagten. Was ihm die Hochzeiten ebenso wie die Scheidungen eingebracht hatten. Mit den Jahren war sein Privatleben unglaublich kompliziert geworden und von seinen Finanzen ließ sich das Gleiche sagen.

      Mit 48 war er nach Grönland geflohen, von wo aus er Geld für die Versorgung und Ausbildung der acht Kinder nach Hause schickte. Mit 67 kam er schuldenfrei wieder nach Hause, doch fiel es ihm schwer, seinen Ruhestand zu genießen. Deshalb war es ihm auch nur recht gewesen, dass sich außer ihm niemand um die ärztliche Vertretung auf Skejø beworben hatte, die jetzt das dritte Jahr andauerte.

      Er näherte sich den 70, verfügte jedoch über eine tadellose Gesundheit und unterhielt ein gutes, freundschaftliches Verhältnis zu einer seiner früheren Frauen sowie zu dreien seiner Kinder, die ihn hin und wieder auf Skejø besuchten. Die anderen hassten ihn für sein Versagen. Er verstand sie, hatte sich entschuldigt und drängte sich nicht auf.

      Es ging ihm gut mit seiner Arbeit, seinen Büchern, seinem Boot, ein paar guten Freunden und dem Teil der Familie, mit dem er Umgang pflegte. Er hatte nicht die Absicht, sich irgendwann einmal wieder mit einer Frau einzulassen. Deshalb wunderte er sich nicht schlecht, als er sich plötzlich die Journalistin zu einem Segeltörn und einem Grillabend mit Meeresblick einladen hörte. Und eigentlich war er erleichtert, als sie ablehnte. Doch dann sagte sie: »Ich muss nämlich meine Tante zum Kartenspielen im Pensionärsverband fahren, aber vielleicht ein anderes Mal?«

      »Ja«, antwortete er schnell. »Wie wäre es mit morgen Abend?«

      »Schön, abgemacht«, sagte sie und schüttelte die silberweiße, volle Haarpracht zurecht.

      Er fand sie äußerst anziehend.

      Karin ihrerseits machte die seltene Erfahrung, einem fremden Menschen zu begegnen, der ihr das Gefühl gab, ihn schon immer zu kennen. Sie hatten leicht und unbeschwert miteinander geredet, einander bereits verstanden, wenn erst die Hälfte eines Satzes ausgesprochen war, gleichzeitig die Stirn gerunzelt, über dasselbe gelacht.

      Er hatte sich an seine Schweigepflicht als Arzt gehalten, ansonsten jedoch nicht mit Informationen und Kommentaren gegeizt.

      Ja, auch er hatte von den Gerüchten gehört, dass bei Gustav Kwium Sterbehilfe geleistet worden war, sah jedoch keinen Grund, ihnen Glauben zu schenken: »Kwiums Herzkapazität war sehr begrenzt, er war 86 und hatte Schmerzen. Ich habe ihm Morphium nach Bedarf verschrieben und das Pflegepersonal ist äußerst verantwortungsbewusst damit umgegangen. Alles wird in Patientenjournalen und Medikamentenlisten festgehalten und aus diesen geht klar hervor, dass er vor Todeseintritt kein Morphium bekommen hat.«

      »Die Gerüchte wollen auch von einem Mann wissen, der vor einem Monat gestorben ist?«, hatte Karin gesagt.

      »Eigil Andersen, ja. Stark behindert nach Blutgerinnseln im Gehirn, ein früherer Suchtpatient. Selbstmord durch eine Überdosis, aber so etwas posaunen wir nicht hinaus. Deshalb ist das Gerücht wohl entstanden.«

      »Und es bestand kein Zweifel, dass es Selbstmord war?«

      »Nein. Wie ich bereits gesagt habe: Schwer behindert, an den Rollstuhl gefesselt, keine Angehörigen, keine Freunde, keine Liebschaften, kein Geld. Wer zum Teufel sollte an seinem Tod ein Interesse haben?«

      Karin hatte Arnold

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