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Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2. Tanja Noy
Читать онлайн.Название Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2
Год выпуска 0
isbn 9788726643077
Автор произведения Tanja Noy
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Julia Wagner
Издательство Bookwire
2:18 Uhr
„Können Sie schon wieder nicht schlafen, Frau Kirsch?“, fragte Felix Effinowicz mit einem leichten Anflug von Gereiztheit. Er war hundemüde und hatte noch beinahe vier Stunden Nachtdienst vor sich.
Elisa Kirsch, ein Spatz von einer Frau, gerade mal ein Meter fünfundfünfzig groß, Prima Ballerina längst vergangener Tage, trug schon wieder ihre bunten Gummistiefel unter einem langen Nachthemd und einer offenen Strickjacke. „Den hier hat sie nach mir geworfen!“, sagte sie und hielt ihm einen dunklen Keramikaschenbecher unter die Nase, der aussah wie ein Hundenapf. „Sehen Sie? Die eine Seite ist ganz abgesplittert. Das ist passiert, als er auf den Boden gefallen ist.“
„Ich verstehe“, sagte Effinowicz, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie einfach zu ignorieren, und dem Pflichtbewusstsein, seinen Job zu machen, was beinhaltete, ihr zuzuhören, irgendwie Verständnis zu zeigen und sie wieder zurück in ihr Bett zu bekommen. Sein Pflichtbewusstsein siegte. „Der Aschenbecher ist also durch die Luft geflogen.“
„Ich hätte die anderen Teile aufheben sollen“, stellte Elisa erschrocken fest. „Hab ich nicht dran gedacht.“ Sie begann, ihre Strickjacke bis zum Kinn zuzuknöpfen, als würde ihr das etwas mehr Zeit geben, um diese Information zu verarbeiten.
„Ist schon in Ordnung. Ich werde gleich danach sehen. Und jetzt gehen Sie wieder ins Bett.“
Elisa rührte sich nicht. „Ich hab gesehen, wie er hoch in der Luft geschwebt ist! Und dann ist er direkt auf mich zugerast. Verstehen Sie?“ Sie zuckte zur Seite, als würde das Ding erneut auf sie zufliegen. „Schnell. Richtig schnell!“
„Okay.“ Effinowicz gähnte. „Und jetzt gehen Sie zurück in Ihr Zimmer und legen sich wieder schlafen.“
Elisa blinzelte. „Sie glauben mir nicht! Natürlich glauben Sie mir nicht! Aber ich weiß doch, was passiert ist! Ich weiß es!“
„Ja. Davon bin ich überzeugt.“
„Denken Sie nicht, Sie wären stärker als sie. Sie fordert, was ihr zusteht.“
„Elisa, gehen Sie jetzt …“
„Sie ist hier, ich weiß es. Aber Sie begreifen es nicht.“
„Das macht nichts“, sagte Effinowicz. „Ich bin es gewohnt, dass ich manches nicht begreife. Und jetzt gehen Sie wieder in Ihr Zimmer, sonst muss ich nachhelfen.“
Elisa hob das Kinn und machte sich davon, allerdings ließen ihre Wortsalven dabei keinesfalls nach: „Dich wird sie sich auch noch holen, wenn du hier weiter große Töne spuckst! Was glaubst du denn? Dass du stärker bist als sie? Und meine Tabletten geben sie mir auch nicht! Aber ich weiß, was ich gesehen habe! Ich weiß es!“
Effinowicz ließ sich schwer auf einen der Stühle im Pflegerzimmer sinken und murmelte: „Ich brauche dringend einen Kaffee.“
4:10 Uhr
Wer würde bestreiten wollen, dass die Seelen der Menschen abgründig sind? Dass ihr Wesen aus dunklen Kammern und unzähligen verwinkelten Gängen besteht? Dass der feste Boden, auf dem wir uns bewegen, gar nicht fest ist? Niemand würde das tun.
Im Gegenteil. Der feste Boden, auf dem wir uns bewegen, ist nichts weiter als eine Illusion. Unter uns befinden sich Abgründe, Hohlräume, tiefste Dunkelheit, und wir bewegen uns darüber, im festen Vertrauen darauf, aus der Gegenwart, im Hier und Heute, eine einigermaßen annehmbare Zukunft formen zu können – und die Vergangenheit zu vergessen.
Aber die Vergangenheit lässt sich nicht übertünchen, egal, was wir auch versuchen. Zu vieles bleibt tief in uns verankert und stößt uns immer wieder an, damit wir es nur ja nicht vergessen. Es quillt hervor wie flüssige Lava, und alles, was ihm in den Weg gerät, zerfällt zu Asche.
Dies war die neunundvierzigste Nacht. Und genau wie in den achtundvierzig Nächten zuvor kroch der Traum wie ein langsam wirkendes Gift in Julias Körper und lähmte sie, während er in die dunkelsten Winkel ihrer Erinnerung vordrang. Es gab kein Entrinnen, keine Möglichkeit die Augen von dem Grauen zu verschließen. Sie war gezwungen, hinzusehen, sie erkannte den Ort. So, wie sie Sandmanns entstellte Leiche erkannte. Die Blutlache, die sich unter seinem reglosen Körper ausbreitete, während das Leben in ihm längst erloschen war.
Dann war auf einmal alles um Julia herum dunkel. So dunkel, dass sie die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte. So lange, bis ein kleines Licht die Schwärze erhellte und auf sie zukam. Die Wände waren unendlich hoch, und es gab nur dieses eine kleine Licht. Das Licht einer Kerze. Sie wusste, dass er es war, und in ihr lieferten sich Angst und Hass einen erbitterten Kampf.
Einen Augenblick lang hörte sie die Stimme ihres toten Vaters: Nur eine einzige Entscheidung, Julia. Und nur du kannst sie treffen. Dann trat Wolfgang Lange aus dem Schatten, lautlos, wie ein Geist. Sie sah es in seinen Augen. Etwas Wildes, Primitives. Seine Lippen formten sich zu einem boshaften Lächeln. In jeder Nacht dasselbe boshafte Lächeln.
Julia wollte schreien, fliehen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie war starr. In der nächsten Sekunde befand sie sich mit unerträglichen Schmerzen auf dem Boden. Sie konnte nicht mehr schlucken, nicht mehr atmen, kroch verzweifelt rückwärts. Dann sah sie das überdimensionale Kreuz.
An dem Kreuz hing Eva.
„Es ist Zeit, mich um deine Freundin zu kümmern. Sie ist überreif, sozusagen.“
Langes Stimme prallte von den Wänden ab, und in diesem Moment verlor Julia endgültig die Nerven. Sie schrie, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle.
Das Messer in seiner Hand wurde zu einer Pistole, zu ihrer eigenen Pistole, ein Schuss krachte wie ein Donnerschlag, und ihr Körper explodierte. Dann ein zweiter Schuss, und Julia sah sich selbst, wie sie zur Seite sackte. Der Boden kam ihr entgegen, sie schlug mit der Schläfe auf und hörte in weiter Ferne Evas Weinen. Der Boden unter ihrer Wange fühlte sich kalt an, aber ihr eigenes Blut wärmte sie, während sie spürte, wie ihr Körper immer schwächer wurde. Die Welt um sie herum verschwamm vor ihren Augen, ehe völlige Dunkelheit sie verschlang.
In dieser Sekunde schlug Julia die Augen auf. Sie blinzelte, versuchte, sich zu orientieren, und stellte fest, dass sie in ihrem Bett lag, vermeintlich sicher in einer psychiatrischen Klinik.
Sie atmete ein paarmal tief durch, um ihren Herzschlag zu beruhigen. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Schweiß klebte auf ihrem Gesicht, und ihr T-Shirt war völlig durchnässt. Sie würgte. Ihre Augen brannten. Decke und Wände drehten sich um sie herum.
Kraftlos wollte sie sich vom Bett erheben und sank doch nur auf den Boden davor, rang weiter nach Luft, aber ihre Lungen wollten sich nicht beruhigen, schenkten ihr keinen Sauerstoff.
Mit mehr Kraft, als sie eigentlich besaß, zwang Julia sich auf die Füße und eilte ins Badezimmer, ehe sie sich in die Toilette übergab.
Eine ganze Weile blieb sie anschließend neben der Schüssel sitzen und starrte auf die kalten Fliesen. Dann richtete sie sich auf, zog das feuchte T-Shirt aus und warf es auf den Boden, zwang sich auf die Füße und blickte in den Spiegel. Sie blinzelte nicht, starrte sich einfach nur an. Sie war älter geworden. Oder vielleicht wirkte sie inzwischen auch nur viel älter als zweiunddreißig Jahre. Sie hatte immer noch dieselben dunkelbraunen, halblangen Haare, denselben langen Pony, der ihr über das linke Auge fiel, dieselbe Größe, dieselbe Figur, dieselben Tätowierungen. Aber nun war noch etwas anderes hinzugekommen. Sie betrachtete die beiden Narben, eine unterhalb des Herzens und eine etwas tiefer auf der linken Seite, und plötzlich erinnerte sie sich an das letzte Gespräch mit Frau Dr. Sattler, der Psychologin.
„ Ich habe mit Ihrem Kollegen Zander über Sie gesprochen, Frau Wagner.“
„ Exkollegen.“
„ Sie haben ihn schon wieder hinausgeworfen. Warum wollen Sie nicht mit ihm sprechen?“
Keine Antwort.