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ist uns bekannt“, erklärte Klaus Martin. „Und genau darum sind wir hier.“

      „Sie möchte nicht mit Ihnen sprechen, Herr Zander.“ In Dr. Jösts Blick lag ehrliches Bedauern.

      „Aber warum nicht?“

      „Sie ist schwer traumatisiert.“ Der Arzt brach ab, fügte aber sofort hinzu: „Sie wird wieder auf die Füße kommen. Nichtsdestotrotz hat es sie schlimm erwischt. Sie hatte zwei schwere Schussverletzungen, als sie eingeliefert wurde, und diverse Prellungen. Außerdem war sie von Kopf bis Fuß schmutzverkrustet und mit blauen Flecken übersät. Ich glaube, wir können uns alle nicht vorstellen, was in jener Nacht in dieser alten Kapelle vor sich gegangen ist.“

      „Und gerade deshalb muss sie mit mir reden.“

      Jöst stellte seine Kaffeetasse beiseite und strich sich über den weißen Kittel. „Nicht wir müssen mit diesem Albtraum zurechtkommen. Sie muss es. Und das muss sie erst lernen.“

      „Redet sie denn mit Ihnen?“, wollte Zander wissen.

      „Nein. Im Augenblick redet sie mit niemandem. Außer mit der Polizei. Und das wohl auch nur leidlich.“

      „Dann lassen Sie mich zu ihr, verdammt! Ich will ihr helfen, und ich weiß, dass ich das kann.“

      „Das hier kann man nicht angehen, so wie Sie es meinen.“

      „Nein? Wie kann man es dann angehen? Sie war völlig hilflos in einer düsteren Kapelle, vollkommen verloren und ganz bestimmt außer sich vor Angst …“

      „Es kann nicht mehr geändert werden“, unterbrach Jöst, „und es kann auch nicht mehr verhindert werden, denn es ist bereits geschehen. Wir müssen uns jetzt auf die Zukunft konzentrieren.“

      „Am liebsten würde ich diesen Mistkerl von den Toten zurückholen und noch einmal umbringen. Nur geht das leider nicht.“

      „Nein, das geht leider nicht. Aber immerhin, sie hat es überlebt. Und wenn sie wieder ins Leben zurückfindet, dann sind Sie da, Herr Zander. Ist Ihnen bewusst, was das bedeutet? Sie werden da sein, wenn sie Sie braucht, und Sie werden ihr helfen, sich dieser Geschichte zu stellen. Sie werden ihr dabei helfen, ihre Vergangenheit zu akzeptieren und sich einer neuen Zukunft zu widmen.“

      „Und wie lange wird es dauern, bis sie sich darauf einlässt?“, wollte Zander wissen.

      Darauf konnte der Arzt nicht antworten. Vermutlich weil er ahnte, dass es von diesem Tag an noch sehr, sehr lange dauern würde.

      1. KAPITEL

      Die finstersten Nächte

      Drei Monate später

      Dienstag, 26. Juli

      22:07 Uhr

      Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich verschwinden musste. Dass sie in Gefahr schwebte und verloren war, wenn er erst auf sie aufmerksam wurde. Sie musste laufen. Doch gerade als sie sich abwenden wollte, stand er auf einmal wie aus dem Boden gewachsen vor ihr und sah auf sie herab.

      In seinen Augen war nicht die Spur eines Gefühls zu erkennen. Als er sprach, war seine Stimme genauso kalt wie seine Augen: „Was machst du hier?“

      Sie schluckte. „Nichts. Ich …“ Sie brach ab. Ich bin das Licht, er ist der Schatten, dachte sie bei sich. Und: Wäre ich in meinem Zimmer geblieben, hätte ich ihn nicht getroffen. Nicht jetzt. Nicht hier. Und: Wäre ich immer das brave Mädchen geblieben, zu dem man mich erzogen hat, dann wäre ich überhaupt nicht hier gelandet.

      Aber für Reue war es nun zu spät. Sie war hier, an diesem Ort namens „Mönchshof“, einer geschlossenen psychiatrischen Klinik, in der alle kranken und verlorenen Seelen der Stadt begraben waren. Bildlich gesprochen. Auf jeden Fall ein düsterer, trostloser Ort.

      Jeder Einzelne hier konnte eine lange Geschichte darüber erzählen, wie er hier gelandet war, und sie wusste genau, dass einige der Geschichten hier enden würden. Vielleicht auch alle. Auf jeden Fall war dies die finsterste Nacht ihres Lebens. In jeder Hinsicht. Sie konnte kaum etwas erkennen, die Mondsichel hinter dem vergitterten Fenster wurde von einer dicken Wolkenschicht verdeckt. Ihn aber sah sie, wie er sie von oben bis unten musterte, ehe er eine leichte Kopfbewegung machte. „Warum bist du nicht in deinem Zimmer?“

      „Ich bin … gerade auf dem Weg dorthin.“ Sie überlegte, ob es vielleicht doch noch nicht zu spät war, um wegzulaufen. Oder wie lange es wohl dauern würde, bis jemand käme, wenn sie anfing zu schreien. Eindeutig zu lange. Nein, wenn ihr an ihrem Leben etwas lag, dann musste sie tapfer weiterlächeln und hoffen, dass er sie gehen ließ.

      Und so lächelte sie tapfer weiter. Das Lächeln erwiderte er jedoch immer noch nicht. Er betrachtete sie nur weiter aus diesen starren Augen, die so kalt waren, als wäre überhaupt kein Leben in ihnen. Sie spürte sein Misstrauen, seinen Argwohn, und ihre Angst bekam nun einen Geschmack, eine Konsistenz und brannte in ihrer Kehle wie Galle, während er herauszufinden versuchte, ob sie etwas gesehen hatte. Er schien das Risiko abzuwägen, das sie darstellte. Dann zischte er: „Wenn du was sagst, bist du tot.“

      Sie antwortete nicht, sondern wandte sich um und rannte los.

      Stefan Versemann begriff zuerst nicht, was draußen vor sich ging.

      Er war gerade auf der Toilette gewesen, nun wusch er sich die Hände, als er mit einem Mal reglos innehielt und aufsah. Für einen kurzen, dämmrigen Moment war er davon überzeugt, draußen auf dem Flur etwas gehört zu haben.

      Er verließ das Badezimmer, öffnete die Tür einen Spalt und schaute hinaus. Und da war tatsächlich etwas. Ein verschwommener Schatten, der über den Flur zu schweben schien.

      Versemann hielt die Luft an und ärgerte sich, dass er seine Brille nicht aufhatte.

      Der Geist Annegrets? War das etwa ein schwarzer Umhang gewesen, den er gesehen hatte? Elisa Kirsch erzählte ständig davon, dass Annegret Lepelja nachts durch die Flure der Klinik geisterte. Allerdings war Elisa auch permanent auf Tranquilizern.

      „Müssen Geister eigentlich auch mal auf den Topf?“, hatte Robert Campuzano gefragt, woraufhin sie ihn nur wortlos angestarrt hatte.

      „Im Ernst“, sagte Campuzano. „Muss so ein Geist noch Geschäfte verrichten, oder ist das für die kein Thema mehr?“

      Wie idiotisch, dachte Versemann nun. Geister. Natürlich gab es keine Geister. Damit schloss er die Tür wieder und legte sich zurück in sein Bett. Es war ein Mensch gewesen, den er dort draußen gesehen hatte, dessen war er sich nun sicher. Und dieser Mensch war natürlich nicht geschwebt, er war lautlos gerannt.

      Oder doch nicht?

      Doch die tote Annegret?

      Versemann seufzte auf. Auf einmal war er sich überhaupt nicht mehr sicher. Auf einmal war er sich nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt etwas auf dem Flur gesehen hatte.

      Er seufzte noch einmal leise auf. War das der Wahnsinn, von dem alle hier sprachen?

      Aus dem Tagebuch von Annegret Lepelja, 1881:

      Wär’s abgetan, so wie’s getan ist, dann wär’s gut. Nun, da ich wieder alleine bin, gestehe ich mir ein, dass ich zur Mörderin geworden bin. Oder zur Vollstreckerin, so wie Svetlana es mir auftrug.

      Vielleicht bin ich nur närrisch, doch sind meine Gedanken derart leuchtend bunt gefärbt, dass es mich überrascht, dass die Welt sie nicht aus meinem Schädel bersten sieht. Ich habe diese Gedanken tief in meinem Inneren begraben. Denn dies ist eine riskante Zeit, und ich brauche Nerven wie aus Stein gemeißelt.

      Die Gefahren wurden vorher sorgfältig von mir abgewogen. Doch woher sollte ich wissen, wie hätte ich mir je vorstellen können, wie es wäre, es so tot vor mir liegen zu sehen? So still.

      Es ist das Beste, nicht mehr daran zu denken.

      Jetzt ist es an der Zeit, an mich selbst zu denken.

      Vorsichtig

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