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Kraft als drei Stunden SUPen bei ruhigen Bedingungen. (BILD 14)

      In der Bucht kommt uns ein Ruderer entgegen. Mir käme es fast unwürdig vor, rückwärts auf einem viel zu kleinen Schlitten zu sitzen, vor und zurück zu rutschen und sich wie Sklaven einer Galeere in die falsche Richtung zu bewegen. Für mich ist das SUPen ein natürlicher, evolutionärer Schritt der Fortbewegung auf dem Wasser. Endlich stehen wir aufrecht auf einem schwimmenden Gegenstand und können in der natürlichen Position des Homo sapiens vorwärtskommen. Es ist tatsächlich wie Gehen auf dem Wasser; nicht mit der Kraft der Beine, sondern der Arme. Ich kann mich im Stehen besser orientieren, weiter schauen und fühle mich in meiner Haltung natürlicher und fast ein bisschen erhaben. Kajakfahren und Rudern sind für mich somit überholte Sportarten – auch wenn sie schneller unterwegs sind als ich. Aber in einer postmodernen Welt kann es nicht mehr um Geschwindigkeit gehen. Es geht darum, aufrecht zu sein – in allen Lebenslagen.

      In einem historischen Hafen am östlichen Ende von San Sebastián steuern wir auf eine Rampe zu, betreten die weltberühmte Stadt vom Wasser aus und werden gleich von einem Kajakfahrer begrüßt. Edu war früher Profi, hatte sich fast im Wildwasserkajak für Olympia qualifiziert, ist 3.500 Kilometer um die gesamte Iberische Halbinsel herumgepaddelt und erklärt sich sofort bereit, unsere Bretter über Nacht im Lager des örtlichen Clubs zu verstauen. Für diese Begegnung gehe ich auf Abenteuertour. Solche Typen lerne ich nur unterwegs kennen. Spannende, weltoffene Menschen, die sich über Erlebnisse freuen, hilfsbereit sind und den größten Teil ihres Tages lächelnd verbringen und fast immer in der Natur sind.

      Es beruhigt mich sehr, dass Edu unsere Tour für machbar hält. Mutig, weil wir es gegen den Wind versuchen. Aber eine Pilgerreise geht nun mal in Richtung Pilgerort und nicht umgekehrt. Außerdem könnten wir im August Glück haben. Die Chance auf Ostwind liege bei 50 Prozent. In mir steigt die Hoffnung, dass wir diese Tour tatsächlich schaffen können. Wir sind viel zu kaputt, um uns San Sebastián anzuschauen. Dabei soll die Stadt eine der schönsten Hafenstädte Europas sein. Aber wir haben einfach keine Kraft mehr.

      Später liegen Turtle und ich in einer kleinen Pension in der Altstadt von San Sebastián. Und schon nach zwei Tagen dieser Tour weiß ich die Vorzüge unserer zivilisierten Welt wieder zu schätzen. Eine warme Dusche, ein frisch bezogenes, weiches Bett, unzählige Restaurants vor der Haustür, Spanisch sprechende fröhliche Menschen auf der Straße, fremde Düfte, T-Shirt-Wetter abends um zehn und das Gefühl, irgendwo weit weg und doch ganz bei mir zu sein. Und gleichzeitig weiß ich, dass diese voll befriedigte Welt das Begehren zunichtemacht. Wer immer nur das Wasser aus dem Hahn trinkt, weiß nicht, dass das Wasser aus dem Brunnen ein paar 100 Meter entfernt besser schmeckt.

      3. TAG: SAN SEBASTIÁN BIS GETARIA

      In Spanien geht die Angst vor einer neuen Coronawelle um. Auch von Zuhause warnen mich Freunde und Familie. Seit heute müssen wir hier immer und überall Maske tragen. (BILD 14) Schon gestern wunderten wir uns, dass unsere Bretter desinfiziert wurden, bevor wir sie in den Schuppen des Ruderklubs legen durften. In Zarautz, einem möglichen Ziel für heute, wurde ein Campingplatz unter Quarantäne gestellt. Es könnte insgesamt ungemütlich für uns werden – auch an Land.

      Während ich die heutige Strecke auf Google Maps checke, entdecke ich den Orio, einen Fluss, der südlich von San Sebastián nach Westen führt. Er mündet bei Oria, nur eine Bucht vor unserem heutigen Etappenziel. »Wenn das klappt, küss ich dir die Stirn«, sagt Turtle, als ich ihm von der Flussidee erzähle. Wir können uns heute beide nicht vorstellen, wieder in dieser tosenden Suppe da draußen zu paddeln. Die Frage ist nur: Wie kommen wir zu dem Fluss?

      Da Turtle wegen seiner Rückenprobleme morgens immer Yoga macht, entscheide ich mich, die Bretter aus dem Kanuschuppen zu holen und schon mal für den Transport Richtung Fluss vorzubereiten. Auf dem Weg komme ich an einer dieser wunderschönen uralten Kathedralen vorbei, wie sie in jeder größeren Stadt Spaniens zu stehen scheinen. Zufällig verlässt gerade eine Putzfrau die Kirche, und ich frage sie, ob ich kurz rein dürfe. Als sie verneint, mache ich ihr ein Zeichen, dass ich schnell beten müsse. »Una minuta«, probiere ich. Sie willigt ein, und ich habe die Kirche für mich.

      Innen herrschen eine so heilige Stille und andächtige Atmosphäre, dass ich fast auf die Knie fallen möchte. Ich setze mich wie immer in die dritte Reihe, sage zur Abwechslung das Vaterunser auf – ich will die Frau nicht belogen haben – und warte auf die innere Ruhe oder auf irgendetwas, das in mir aufsteigen möchte. Plötzlich kommt ein Impuls aus dem Nichts, ich öffne die Augen, sehe Jesus am Kreuz über dem Altar hängen und weiß, dass der heutige Tag gesegnet ist. Vielleicht ist sogar die ganze Tour gesegnet – so fühlt es sich jedenfalls in diesem Moment an. Von mir aus mag das kitschig klingen und nur den Gespinsten meines Hirns entstammen. Das Gefühl aber ist da, tief in mir, und es zeigt mir deutlich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

      Beweisen lässt sich das natürlich nicht. Und trotzdem glaube ich fest daran, dass manche Ereignisse, Projekte oder Unternehmungen unter einem guten Stern stehen. Bei dieser Reise spüre ich seit heute genau das – vielleicht will ich es aber auch einfach nur spüren. Meine Seele – ich glaube auch an dieses Konzept mit ganzem Herzen – fühlt sich manchmal so leicht an, dass sie davonschweben möchte und mich bittet, ihr zu folgen und nicht zum hundertsten Mal Widerstand zu leisten und meinen Dickkopf durchzusetzen oder meinen Ängsten nachzugeben. Diese Reise, diese Pilgertour soll geschehen. Sie soll genau so stattfinden, wie sie es gerade tut. Und wenn dies alles stimmt, werden wir in vier Wochen in Santiago sein, ich werde dieses Manuskript eine Woche später abgeben und das Buch erscheint pünktlich zur Frankfurter Buchmesse im Oktober.

      Bis dahin muss ich mir selbst aber noch ein paar Fragen beantworten: Was ist eigentlich meine Triebfeder, immer wieder über die Grenze hinauszugehen, das Äußerste auszuloten, Schmerzen, Hunger oder Einsamkeit zu ertragen? Warum muss ich immer wieder das Vertraute und Erreichte hinter mir lassen? Was machen diese Erfahrungen mit mir? Und warum muss ich sie ständig wiederholen? Was fasziniert mich auf dem vergeblichen Weg, hinter den Horizont zu schauen? Auf mich warten vier Wochen auf dem berühmtesten Pilgerweg der Welt. Die Antworten werden kommen.

      Ich habe einen kleinen Ziehwagen dabei, der mir schon bei der Donau und ihren mehr als 200 Wehren und Schleusen die Reise gerettet hat. Ich spanne unsere Bretter und alles Gepäck auf das kleine Ding, hole Turtle ab, und gemeinsam ziehen wir das wenige Gut, das wir im Moment brauchen, über die Promenade von San Sebastián zum nächsten Taxistand. (BILD 15)

      Der Taxifahrer schlägt zunächst die Hände über dem Kopf zusammen. Doch als er versteht, dass wir die Luft aus unseren Brettern lassen können, ist er begeistert und fährt uns direkt an den Oria zu einer perfekten Einstiegsstelle. Wir pumpen unsere Bretter wieder auf, sortieren unser Gepäck neu und fahren zum ersten Mal auf dieser Reise über ruhiges Gewässer, auf dem wir nicht nur stehen, sondern uns von Wind und Strömung in Richtung unseres Ziels treiben lassen können, ohne etwas tun zu müssen. Zum ersten Mal ist die Reise kein Kampf, sondern reines Vergnügen.

      Wie ruhig der Fluss ist. Welches Glück er hat, dass er nicht das Meer ist und ständig tosen, brausen, steigen und sinken, Wellen schlagen, Boote schlucken und Küsten fressen muss. Wie muss es sich anfühlen, ein Fluss zu sein? Wie entspannt er uns auf sich treiben lässt. Wie freundlich von ihm, dass er uns einfach so aufnimmt. In aller Ruhe und Stille gleiten Berge und Dörfer vorbei, wir schauen Fischen beim Spielen zu, winken Bauern, wünschen Fischern viel Glück, bestaunen wilde Seegräser und kreisende Adler hoch oben über unseren Köpfen und speichern Hügelketten in ihrer sich verschiebenden Dreidimensionalität für immer in unseren Gehirnen ab. Diese Stunden auf dem Oria sind ein Segen für unsere Seelen. Wir gönnen uns einen Tag Pause vom Meer. Es ist, als würde ein Schalter umgelegt. (BILDER 16 & 17)

      Überall fließen solche Flüsse durch Spanien. Wenn die See, die launische Diva, uns nicht will, dann nehmen wir ihre vielen Onkel und Tanten und schaffen es auf diesem Weg nach Santiago. Denn dieses Ziel werden wir nie aus den Augen verlieren.

      Auf solchen Reisen scheint sich die Zeit zu dehnen. Gestern ist schon ewig lange her. Unsere Abfahrt in Frankreich erfolgte in einem anderen Zeitalter. Und dieser Fluss hat überhaupt keine Ahnung davon, was Zeit eigentlich ist. Er ist immer neu, fließt

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