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Moses und der kalte Engel. Ortwin Ramadan
Читать онлайн.Название Moses und der kalte Engel
Год выпуска 0
isbn 9783037921678
Автор произведения Ortwin Ramadan
Жанр Языкознание
Серия Moses
Издательство Bookwire
»Da sind Sie ja endlich«, stöhnte Helwig. Sie rückte ihren Stuhl und erhob sich.
Moses starrte ihr erschrocken ins Gesicht. »Sollten Sie das nicht besser kühlen?«
Der Bluterguss auf Helwigs linker Gesichtshälfte zog sich über ihre gesamte Wange bis ans Ohr. Er begann bereits in allen Farben zu leuchten.
»Das verdanke ich ihr!« Helwig deutete auf die junge Frau, die noch immer mit gesenktem Kopf dasaß. »Ich habe sie in Mattis’ Wohnung überrascht, und bei der Gelegenheit hat sie mir ihre Einkaufstasche ins Gesicht geknallt. Sie dachte offenbar, wir wären weg.«
Moses musterte die Frau. Das Alter schätzte er auf höchstens Anfang zwanzig, und obwohl sie das Kinn auf ihre Brust presste, war nicht zu übersehen, dass sie auffallend hübsch war. Ihre Kleidung war dagegen eher unauffällig. Eine schwarze Jeans und ein grauer Rollkragenpullover. Schmuck trug sie nicht. Auch ihre gekräuselten Haare waren zweckmäßig kurz, was ihren fein geschnittenen Gesichtszügen etwas Jungenhaftes verlieh.
Moses öffnete den Knopf seines Jacketts, zog einen Stuhl heran und setzte sich der jungen Frau gegenüber an den Tisch.
»Ich bin Hauptkommissar Moses«, sagte er in einem freundlichen Ton. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Verstehen Sie, was ich sage?«
Die junge Frau zeigte keinerlei Reaktion.
»Sie redet nicht«, warf Helwig ein, die hinter ihm stand. »Wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt Deutsch versteht.«
»Was ist mit Englisch oder Französisch?«, fragte Moses über die Schulter.
»Haben wir alles probiert. Sogar Portugiesisch. In der Kantine arbeitet ein Koch aus Portugal.« Helwig verschränkte die Arme. Ihrer Miene nach zu urteilen hatte sie der jungen Frau den Schlag ins Gesicht nicht verziehen. »Mit anderen Worten: Wir wissen nicht, woher sie stammt oder welche Sprache sie spricht. Einen Ausweis oder irgendwelche Papiere haben wir nicht gefunden. Auch nicht in der Wohnung.«
»Wie sieht es mit Fingerabdrücken aus?«, erkundigte sich Moses. »Haben Sie die schon abnehmen lassen?«
»Ja, aber das Ergebnis steht noch aus.« Helwig zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, warum das immer so lange dauert.«
Moses stieß insgeheim einen Fluch aus. Dann wandte er sich wieder der jungen Frau zu. Es behagte ihm nicht, über einen Menschen zu reden, als sei er nicht anwesend. Dabei kam es ihm so vor, als sei sein Gegenüber genau das. Nicht anwesend. Zumindest geistig nicht. Sie hatte ihre Hände in ihrem Schoß verschränkt und starrte auf ihre Finger, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken.
»Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen«, sagte er. Er bemühte sich erneut um einen freundlichen Ton. »Wir wollen uns nur mit Ihnen unterhalten. Über Ihren Freund, Jan Mattis. Wenn Sie einen Schlüssel zu seiner Wohnung haben, müssen Sie ihn kennen.«
Er beobachtete die junge Frau, die weiterhin unbewegt auf ihre Hände starrte. Bei der Erwähnung des Namens des Toten glaubte er dennoch, eine kaum sichtbare Reaktion wahrgenommen zu haben. Verstand sie, was er sagte, oder hatte sie nur den Namen wiedererkannt? Und wovor hatte sie Angst? Vor einer Abschiebung in ihr Heimatland oder etwas anderem? Denn dass die junge Frau vor lauter Furcht geradezu paralysiert war, daran hatte er inzwischen keinen Zweifel. Ihr Schweigen war kein Trotz. Diese Sprachlosigkeit kannte er aus seinen eigenen Albträumen. Sie war Ausdruck nackter Panik.
»Es hat keinen Sinn«, meinte Helwig. »Aus der kriegen wir nichts raus. Deshalb …«
Sie wurde unterbrochen, denn es klopfte, und Viteri steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich muss Sie mal kurz sprechen«, sagte er zu Moses. »Ich glaube, ich habe da was, das könnte interessant sein.«
Moses warf Helwig einen Blick zu. Dann erhob er sich und folgte Viteri auf den Flur hinaus.
»Und, was gibt es?«, wollte er wissen, nachdem er die Tür zum Besprechungszimmer hinter sich geschlossen hatte.
Viteri holte tief Luft. »Also, dieser Mattis, ich meine, das Opfer, der war seit mehr als zwei Jahren arbeitslos gemeldet.« Viteri sah ihn an und nestelte an seiner Brille herum. Moses zwang sich zur Geduld und wartete darauf, dass er endlich fortfuhr.
»Äh, ja.« Viteri sammelte sich. »Was ich eigentlich sagen wollte: Obwohl er arbeitslos war, hat er nicht zu Hause auf der Couch gesessen. Er hat bei einer Hilfsorganisation gejobbt. Ehrenamtlich.«
»Und weiter?«
Viteri sah auf seinen Notizzettel. »Der Name des Vereins ist ProAid.« Er rückte seine schwarze Brille zurecht und sah Moses an. »Laut der Homepage vermitteln sie in Deutschland gestrandeten Flüchtlingen medizinische Hilfe. Ist als gemeinnützig anerkannt. Alles ganz seriös, zumindest der Homepage nach zu urteilen.«
Moses legte die Stirn in Falten. »Wie sind Sie denn darauf gestoßen, dass Mattis dort beschäftigt war?«
»Das war ganz einfach!« Viteri grinste. »Ich habe Mattis’ Namen in die Suchmaschine eingegeben, und da ist er auf den Internetseiten des Vereins aufgetaucht. In einer Bildunterschrift der ehrenamtlichen Helfer. Also habe ich da mal angerufen und mich als Mitarbeiter vom Jobcenter ausgegeben. Wegen Nebeneinkünften und so. Schließlich war er ja arbeitslos gemeldet.«
Er verstummte erneut, als wartete er auf eine Reaktion.
»Verdammt«, schimpfte Moses, dem der Geduldsfaden riss. »Jetzt lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen! Was haben Sie erfahren?«
Viteri zuckte ein wenig zusammen. »Äh, nichts weiter«, fuhr er hastig fort. »Die haben mir am Telefon nur bestätigt, dass Mattis sich dort engagiert hat. Ohne Geld dafür zu bekommen. Sein, äh, Ableben habe ich aber nicht erwähnt.«
Moses war erleichtert, denn wenn Mattis sich in dem Verein engagiert hatte, wollte er der Erste sein, der die Nachricht von seinem Tod überbrachte. Die spontane Reaktion auf eine Todesnachricht sprach meist Bände.
»Das haben Sie ausgezeichnet gemacht!«, lobte er Viteri. »Besorgen Sie mir bitte alles, was Sie noch über diese Hilfsorganisation finden können. Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie was haben.«
Nachdem Viteri sich mit einem Nicken an seinen Schreibtisch zurückbegeben hatte, betrat Moses wieder den Besprechungsraum. Keine Sekunde zu früh, denn Helwig stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte und fuhr die nun weinende junge Frau wütend an: »Ihr Freund ist tot, ermordet! Verstehen Sie das? Ermordet!«
»Katja!«, platzte es aus Moses heraus. Er wusste nicht, warum er seine Kollegin spontan beim Vornamen genannt hatte. Er duzte grundsätzlich keine Untergebenen. Auch Helwig schien überrascht, denn sie hielt inne und drehte sich mit großen Augen zu ihm um.
»Kann ich Sie mal sprechen?« Moses führte seine Kollegin aus dem Raum.
»Was denken Sie sich?«, zischte er leise.
»Glauben Sie mir, die spielt uns was vor«, erregte sich Helwig. »Sie versteht genau, was ich sage!«
»Und wenn schon! Das gibt Ihnen nicht das Recht, sich derart gehen zu lassen!«
Helwig deutete erbost auf ihre blutunterlaufene Wange. »Und was ist damit?«
»Sie wissen, was ich meine!«, sagte Moses mit gedämpfter Stimme. »Abgesehen davon bin ich immer noch Ihr Vorgesetzter. Vergessen Sie das nicht!«
»Schon kapiert.« Helwig reckte trotzig ihr Kinn. »Ohne Ihre Fürsprache wäre ich nicht hier – vermutlich muss ich mir das jetzt bis zu meiner Pension anhören.«
Moses und Helwig standen sich dicht gegenüber und starrten sich herausfordernd an. Schließlich war es Moses, der nachgab und die Situation auflöste, indem er abwinkte und sich müde streckte.