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räumte Moses widerwillig ein.

      Er hielt Arbeit und Privatleben gerne getrennt, deshalb war es ihm gar nicht recht, wenn Henning ihn hier in seinem Büro überfiel. Das würde er ihm bei Gelegenheit klarmachen müssen. So wie einiges andere auch. Moses rieb sich die Augen, dann erhob er sich. Es wurde Zeit, sich wieder auf ihren bizarren Fall zu konzentrieren. Vielleicht konnte ihnen die Hilfsorganisation, bei der sich der Tote offenbar ehrenamtlich engagiert hatte, ja tatsächlich weiterhelfen.

      »Was ist das denn für ein Ding?«, fragte Helwig, als er seinen Schreibtisch umrundete. Sie deutete auf das Amulett auf dem Tisch. »Ist das ein Geschenk von Ihrem Bruder?«

      Sie trat näher und nahm das Ledersäckchen ungefragt in die Hand, um es neugierig von allen Seiten zu betrachten.

      »Seltsames Teil«, meinte sie. »Was ist denn da drin eingenäht?«

      »Haare, Fingernägel, weiß Gott was. Das ist ein magisches Amulett.«

      Helwig sah ihn mit großen Augen an. »Ernsthaft?«

      Sie legte das Gris-Gris hastig zurück auf den Tisch.

      »Mattis’ Freundin hat es bei dem Handgemenge mit Ihnen verloren«, erklärte er. »Sie muss es in der Hand gehalten haben.«

      »Die ganze Zeit über?« Helwig bedachte das Lederpäckchen auf dem Schreibtisch mit einem argwöhnischen Blick. »Aber warum?«

      »Vielleicht hatte sie einfach nur Angst.«

      »Vor uns?«

      »Vor uns, dem Mörder oder irgendwelchen Dämonen und Geistern.«

      Moses fuhr sich über das Gesicht. Mit einem Mal fühlte er sich unendlich müde. Erst abgetrennte Hühnerfüße und jetzt auch noch Dämonen und böse Geister. Wo sollte das nur hinführen? Mit einem mehr als unguten Gefühl nahm er das Amulett wieder an sich und steckte es ein.

      8.

      Vom Beifahrersitz aus konnte Moses das gewaltige Rund des Tennisstadions bereits sehen. Wie immer weckte der Anblick Erinnerungen in ihm, denn hier am Rothenbaum hatten Henning und er Tennis spielen gelernt. Als sportbegeisterte Angehörige einer alteingesessenen hanseatischen Familie waren seine Adoptiveltern natürlich Mitglied in dem Club an der Alster gewesen. Er erinnerte sich noch genau daran, wie sein Adoptivvater Henning und ihn zum ersten Mal mitgenommen hatte und wie sehr ihn diese strahlend weiße Welt beeindruckt hatte. Und dass er das einzige Kind mit schwarzer Haut auf der gesamten Anlage gewesen war. Alle waren blond gewesen. Selbst die Erwachsenen. Dennoch hatte er Feuer gefangen, und auf dem Platz war er zu einem ernsthaften Konkurrenten für seinen Adoptivbruder herangewachsen. Wer der bessere Tennisspieler von ihnen war, das war ein Wettstreit, der bis heute anhielt und nicht entschieden war. Wenn er daran dachte, wie Henning und er bei den ATP-Turnieren auf dem Centercourt mitgefiebert hatten, musste er schmunzeln. Es waren aufgeregte, unbeschwerte Stunden gewesen. Aber dann hatte ein Verrückter vor ihren Augen Monica Seles, der damals weltbesten Spielerin, ein Messer in den Rücken gerammt. Er hatte die Szene noch heute vor Augen, denn das Attentat geschah nur wenige Meter von ihrem Logenplatz entfernt. Das war kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag gewesen, das wusste er noch genau, und irgendwie war danach Am Rothenbaum nichts mehr wie früher gewesen. Mittlerweile fanden in dem Tennisstadion internationale Beachvolleyball-Meisterschaften statt, und komischerweise war ihm das egal. Henning und ihn hatte es schon bald ohnehin eher ins Zwick gezogen, das nur ein Stück weiter an der Ecke zum Böhmersweg lag. Er fragte sich, ob es dort wohl noch immer so laut und verqualmt zuging wie zu ihrer Zeit.

      »Warum grinsen Sie so?«, fragte Helwig, ohne ihn anzusehen.

      Wie immer fuhr sie viel zu dicht auf ihren Vordermann auf.

      »Ach, nichts weiter!«, winkte Moses ab. »Ich musste nur an etwas denken.«

      Dass ihm gerade seine Afrofrisur eingefallen war, mit der er damals versucht hatte, die Mädchen zu beeindrucken, behielt er besser für sich.

      »Müssen schöne Erinnerungen sein«, meinte Helwig und stieg hart auf die Bremse.

      »Wie man es nimmt«, sagte Moses. »Übrigens wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie ein bisschen mehr Abstand halten würden.«

      »Was kann ich für diese Trantüte?«, beschwerte sich Helwig über den Fahrer vor ihr. »Es gibt überhaupt keinen Grund, so zu kriechen!«

      »Diese Geschäftsführerin, wie hieß sie noch?«

      »Solbek. Sylvia Solbek.« Helwig rammte den Gang rein und setzte zum Überholen an.

      »Weiß sie, weshalb wir mit ihr sprechen wollen?«

      »Nein. Ich hielt es für besser, den Mord an ihrem Mitarbeiter nicht am Telefon zu erwähnen. Allerdings schien sie mir sehr beunruhigt, als ich mich vorgestellt habe.«

      Moses fuhr sich über das Gesicht. Wer ist das nicht, wenn sich die Kriminalpolizei bei ihm ankündigt? Er sah wieder aus dem Fenster. Nachdem sie das Tennisstadion hinter sich gelassen hatten, verließen sie an dem scheußlichen Einkaufscenter den Mittelweg und bogen in die Milchstraße ein. Von nun an reihten sich auf beiden Seiten der engen Straße Restaurants und Bars aneinander, dazwischen residierten exklusive Boutiquen, hippe Galerien und angesagte Cafés. Von den obligatorischen Touristen, die auf den Spuren Jil Sanders oder Gunter Sachs’ mit dem Smartphone vor dem Gesicht durch das alsternahe Nobelviertel irrten, einmal abgesehen, ging es zu dieser Tageszeit auf der Flaniermeile noch verhältnismäßig gemächlich zu.

      »Was hat Elvers denn über diesen Hilfsverein herausgefunden?«, fragte Moses, während er eine elegant gekleidete Dame beobachtete, die ihren übergewichtigen Mops mitten auf den Gehweg pinkeln ließ.

      »Diesen Verein, also ProAid, gibt es seit vier Jahren«, erklärte Helwig. »Gegründet wurde er von dieser Solbek und ihrem Ehemann. Aber der Ehemann ist mittlerweile verstorben. Seitdem ist seine Frau alleinige Geschäftsführerin. Ihr Mann war Jurist, sie ist ursprünglich Unternehmensberaterin. Offenbar haben sie früher zusammen eine erfolgreiche Beraterfirma gehabt.«

      Das war interessant, wie Moses fand. Unternehmensberater und Anwälte, die mit einem Mal ihr soziales Gewissen entdeckten, waren sicher nicht sehr verbreitet.

      »Woher kommt denn das Geld?«, wollte er von Helwig wissen. »Ich meine, wodurch finanziert sich dieser Verein?«

      »Ausschließlich durch Spenden. Da sind ’ne Menge bekannte Namen drunter. Diese Solbek ist sogar schon einmal für ihr soziales Engagement ausgezeichnet worden. Auf den ersten Blick ist also alles ganz sauber.«

      »Und was sagt der zweite?«

      »Das werden wir sehen«, meinte Helwig, während sie am Alsterpark in den Harvestehuder Weg einbog. Jetzt säumten palastartige Villen aus dem späten 19. Jahrhundert und moderne, blendend weiße Stadthäuser die rechte Straßenseite. Auf der anderen schimmerte die Außenalster durch die Bäume der großzügigen Parkanlage.

      »Ich hasse dieses Pöseldorf!«, stieß Helwig beim Anblick des steingewordenen Wohlstands aus.

      »Ach ja?« horchte Moses auf. Schließlich war er selbst in einer noch größeren Nienstedtener Villa aufgewachsen.

      Helwig warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Hier wohnen doch nur Leute, die sich für etwas Besseres halten. Geben sich nach außen hin weltoffen und superkreativ, dabei verstecken sie sich in Wahrheit hinter einer Mauer aus Geld!«

      Moses war froh, dass sie die Adresse, die Elvers ihnen geben hatte, erreicht hatten. Allerdings staunte er nicht schlecht. Das historische Palais hinter dem schmiedeeisernen Tor schien ihm für eine Hilfsorganisation etwas zu überdimensioniert zu sein. Und bei Weitem zu kostspielig.

      Auch Helwig war sichtlich beeindruckt. »Ich glaube, ich habe den falschen Beruf gewählt«, sagte sie, während sie in der Einfahrt hielt. »Ich hätte eine Hilfsorganisation gründen sollen!«

      »Sind Sie sicher, dass das die richtige Hausnummer ist?«, erkundigte sich Moses. »Vielleicht hat Elvers sich ja geirrt.«

      Helwig

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