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Moses und der kalte Engel. Ortwin Ramadan
Читать онлайн.Название Moses und der kalte Engel
Год выпуска 0
isbn 9783037921678
Автор произведения Ortwin Ramadan
Жанр Языкознание
Серия Moses
Издательство Bookwire
Während sich Helwig ins Schlafzimmer verzog, ging Moses noch einmal ins Bad. Etwas hatte ihn stutzig gemacht. In dem Moment, in dem er vor das Waschbecken trat, wusste er, was ihm auf den ersten Blick entgangen war. Als er daraufhin den Spiegelschrank öffnete, hörte er Helwig aus dem Schlafzimmer rufen.
»Hey, kommen Sie mal her! Das müssen Sie sich unbedingt ansehen.«
Moses schloss das Schränkchen und begab sich nach nebenan ins Schlafzimmer. Helwig hatte den Koffer auf dem Bett geöffnet. Jetzt hielt sie mit spitzen Fingern einen schwarzen Spitzen-BH in die Höhe.
»Also wenn Sie mich fragen, ist dieser Mattis entweder eine Transe, oder er wohnt nicht allein hier.«
Moses warf einen Blick in den gepackten Koffer. Es handelte sich ausschließlich um Frauenkleidung. »Ich denke, der junge Mann hatte eine Freundin oder Mitbewohnerin. Im Bad stehen zwei Zahnbürsten und im Schrank sind jede Menge Kosmetika.«
Helwig ließ den BH zurück in den Koffer fallen. »Dann sollten wir uns schleunigst mit dieser Freundin unterhalten. Vielleicht weiß sie, mit wem Mattis eine Rechnung offen hatte.«
»Der Meinung bin ich auch. Ich hoffe nur, dass sie in der Zwischenzeit nicht untergetaucht ist.«
»Weil sie bereits weiß, was mit ihrem Lover geschehen ist?«
»Denkbar wäre es.«
»Aber warum sind ihre Klamotten dann noch hier?« Helwig zeigte auf den offenen Koffer, der vor ihnen auf dem Doppelbett lag.
»Gute Frage. Am besten, wir lassen die Wohnung beobachten.«
»Und was ist mit der Spurensicherung?« Helwig ließ ihren Blick durch das helle Schlafzimmer wandern.
»Die halten wir noch ein wenig zurück«, entschied Moses nach kurzem Überlegen. »Wenn Mattis’ unbekannte Mitbewohnerin zurückkommt und es hier von Polizei wimmelt, verschwindet sie womöglich auf Nimmerwiedersehen.«
Sein Blick blieb an dem sündhaft teuren Flachbildschirm hängen, der an der Wand gegenüber vom Bett hing und beinahe Kinoformat hatte. Für ihn stand mittlerweile außer Frage, dass der vorbestrafte Kleindealer in etwas Größeres verwickelt gewesen sein musste. Vielleicht hatte er tatsächlich Kontakt zur organisierten Kriminalität gehabt. Vielleicht war er sogar selbst Mitglied. Jedenfalls hatte er das Geld für diese Wohnung ganz sicher nicht auf legale Weise erworben. Das sagte ihm allein sein Gefühl.
Moses spürte, wie sein Handy in der Manteltasche vibrierte. Auf dem Display stand Julianes Nummer.
»Bin gleich wieder da!«, rief er Helwig zu.
Dann ging er in den Flur, um das Gespräch ungestört entgegenzunehmen.
»Guten Morgen.«
»Hallo«, hörte er Juliane sagen. »Wie war deine Tagung in Flensburg? Ich dachte, sie wäre gestern Nachmittag zu Ende gewesen.«
Der vorwurfsvolle Unterton war nicht zu überhören.
»Das war sie auch«, räumte Moses ein. »Aber ich habe den Zug verpasst. Außerdem habe ich einen neuen Fall.«
Juliane sog hörbar Luft ein. »Dann bist du vom Bahnhof aus ins Präsidium gefahren? Obwohl du gestern frei hattest?«
»Na ja, nicht direkt«, sagte Moses. »Ich hatte mein Diensthandy dabei, und da habe ich eben mitbekommen, was los ist.«
»Und da konntest du natürlich nicht widerstehen.« Juliane stöhnte. »Du bist wirklich unverbesserlich! Ich habe den ganzen Abend auf dich gewartet.«
Moses schwieg. Was sollte er auch sagen? Wie sollte er Juliane erklären, dass er Angst vor dieser einen sogenannten »letzten Nacht« gehabt hatte. Angst davor, den unvermeidlichen Abschied auch noch zu zelebrieren. Irgendetwas in seinem Inneren hatte sich geradezu panisch gegen die Vorstellung gewehrt. Am Ende hatte er es nicht einmal fertiggebracht, sie nach seiner Rückkehr anzurufen. Stattdessen hatte er sich zur Verwunderung seiner diensthabenden Kollegen darum gerissen, den neuen Fall übernehmen zu können.
Moses konnte spüren, dass Juliane ihre Enttäuschung und Verunsicherung am anderen Ende der Leitung zu verbergen versuchte.
»Ich hoffe, du hast wenigstens nicht vergessen, dass ich nachher zum Flughafen muss«, sagte sie.
»Wie könnte ich?«, sagte Moses schnell. »Bist du denn schon fertig?«
»Ich sitze seit gestern Abend auf gepackten Koffern. Aber wenn du beschäftigt bist, kann ich mir auch ein Taxi nehmen.«
»Nein, nein!«, entschied Moses. »Selbstverständlich bringe ich dich hin. Schließlich werden wir uns monatelang nicht sehen. Ich bin spätestens um zwölf bei dir.«
Moses legte auf und sah auf seine Schweizer Armbanduhr, ein Geschenk seines verstorbenen Adoptivvaters. Er war im Dienst, und er hatte einen neuen Fall. Eigentlich durfte er es sich gar nicht erlauben, nach Fuhlsbüttel rauszufahren. Missmutig kehrte er in das Schlafzimmer zurück, wo sich Helwig in der Zwischenzeit keinen Zentimeter von der Stelle gerührt hatte. Es war offensichtlich, dass sie die Ohren gespitzt und gelauscht hatte.
»Und?«, fragte sie mit gespieltem Desinteresse. »Gibt’s Probleme?«
»Nicht der Rede wert«, winkte Moses ab. »Alles in Ordnung.«
Wenn er gedacht hatte, die Sache wäre damit erledigt, so hatte er sich getäuscht. Helwig ließ nicht locker.
»Monatelang?« Sie machte ein erstauntes Gesicht. »Das hört sich ja dramatisch an. Macht Ihre Freundin etwa Urlaub am Nordpol? Oder muss sie eine Haftstrafe absitzen?«
»Nichts dergleichen«, grummelte Moses widerwillig. »Sie fliegt nach Papua-Neuguinea.«
Jetzt schossen Helwigs Augenbrauen in die Höhe. »Im Ernst? Das ist am Arsch der Welt. Was macht man denn da? Monatelang?«
»Sprachen erforschen.«
»Sprachen erforschen?« Helwig schüttelte ungläubig den Kopf. »Verrückt. Ich habe mal gelesen, dass es dort vielleicht noch Kannibalen gibt. Stand in so einem Wissenschaftsmagazin. Also, ich würde mich ja nicht gerne mit denen unterhalten …«
»Lassen wir das!«, sagte Moses strenger als beabsichtigt. Verärgert streifte er sich die mitgebrachten Latexhandschuhe über. »Sehen wir lieber nach, ob wir Fotos oder irgendwelche Dokumente finden. In der Wohnung hier muss es schließlich etwas geben, das uns weiterbringt.«
Helwig rührte sich nicht vom Fleck. Sie sah Moses an, als versuche sie seine Gedanken zu ergründen. Schließlich stieß sie einen leisen Seufzer aus und folgte seinem Beispiel. Sie zog ebenfalls Handschuhe an, dann begannen sie gemeinsam damit, die Wohnung zu durchsuchen. Zu finden gab es nicht viel. Im Kühlschrank herrschte, von einem einsamen Bio-Joghurt abgesehen, gähnende Leere, und im Schlafzimmerschrank hing außer einem kurzen Kleid, das offenbar nicht mehr in den Koffer gepasst hatte, nur noch Kleidung, die dem ermordeten jungen Mann gehört haben musste. Persönliche Dinge gab es so gut wie nicht, ebenso wenig wie Fotos. Dafür entdeckten sie in einem Nebenraum einen unausgepackten Karton mit Dokumenten. Darunter befanden sich ein drei Monate alter Mietvertrag sowie alte Bescheide vom Jugendamt.
»Allem Anschein nach ist Mattis in einem Lübecker Jugendheim aufgewachsen«, stellte Moses fest, nachdem er einen Blick auf das Papier in seiner Hand geworfen hatte.
Helwig sah sich in dem spärlich möblierten Zimmer um. »Ich glaube, hier gibt es nicht viel zu holen. Weder Drogen noch Waffen. Wenn Sie mich fragen, sieht das hier nicht nach Gangmitglied aus. Zumindest nicht auf den ersten Blick.«
»Was haben Sie erwartet?«, fragte Moses amüsiert. »Maschinenpistolen und eine Badewanne voll Koks? Soweit wir bislang wissen, war Jan Mattis lediglich ein junger Mann, der das Pech hatte, mit den Hosentaschen voller Cannabis erwischt zu werden.«
Helwig zuckte mit den Schultern. »Man hat schon Pferde kotzen sehen. Übrigens, ist Ihnen schon aufgefallen, dass hier etwas fehlt?«
Moses nickte.