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trat er zur Seite und deutete auf den dunklen Hauseingang. Moses folgte seinem Blick, und sofort beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Das Haus musste seinem Zustand nach zu urteilen schon seit geraumer Zeit leer stehen. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit Sperrholzplatten vernagelt, die Wände und der Eingang mit Graffiti übersät. Auch in den oberen Etagen waren die meisten Fenster verrammelt. Er versuchte sich sein Frösteln nicht anmerken zu lassen. Es kam ihm so vor, als würden die blinden Fensterhöhlen auf ihn herabstarren. Inmitten der bewohnten Gebäude rechts und links wirkte das Haus wie ein Fremdkörper, von dem etwas Böses ausging. Er nahm die Stablampe in seine linke Hand und stieg die wenigen Eingangsstufen hoch. Als er die schwere, mit wilden Tags besprühte Haustür aufdrückte, hörte er, wie ihm der Einsatzleiter nachrief: »Übrigens! Ihre hübsche Kollegin ist schon oben.«

      Moses ersparte sich eine Antwort. Stattdessen schob er sich durch die Tür und stieg über die fleckige Matratze hinweg, die den Eingang versperrte. Das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge huschte über die Wände des Treppenhauses, und durch die offene Tür in seinem Rücken konnte er hören, wie die Streifenbeamten die Schaulustigen erneut zum Weitergehen aufforderten. Er schaltete die Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über die mit Obszönitäten und revolutionären Parolen vollgekritzelten Wände wandern. Überall lag Müll, und obwohl es im Treppenhaus wie Hechtsuppe zog, roch es nach Schimmel und Verwesung. Moses hielt instinktiv die Luft an und stieg über die Flaschen und Pizzakartons hinweg, um zur Treppe zu gelangen. Als er seinen Fuß auf die erste Stufe setzte, zögerte er. Etliche Sprossen des kunstvoll gedrechselten Holzgeländers waren herausgebrochen, vermutlich das Werk von Jugendlichen im Testosteronrausch, und auch was davon noch übrig war, weckte nicht gerade sein Vertrauen.

      »Man muss immer am Rand bleiben. Dann geht es.«

      Moses legte den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen. Drei Stockwerke über ihm blitzte eine Taschenlampe auf und blendete ihn.

      »Sieht schlimmer aus, als es ist!«, rief Helwig zu ihm hinab.

      Moses hielt die Hand schützend gegen den blendenden Lichtkegel und stieß einen Stoßseufzer aus. Wie seine Kollegin es schaffte, stets als Erste vor Ort zu sein, war ihm ein Rätsel. Vorsichtig stieg er im Schein der Taschenlampe die knarrende Treppe hinauf. Als er unter dem Dach ankam, leuchtete Helwig ihm ins Gesicht.

      Sie klang überrascht. »Ich dachte, Sie sind in Flensburg. Auf dieser Tagung.«

      »Das war ich – jetzt leuchten Sie mir nicht die ganze Zeit in die Augen!«

      »Sorry.« Helwig senkte ihre Taschenlampe. »In dieser Bruchbude gibt es leider kein Licht.«

      »Ist die Spurensicherung schon unterwegs?«, erkundigte sich Moses, während er sich die Augen rieb.

      »Müsste jeden Moment auf der Bildfläche erscheinen. Ebenso wie Kollege Leitner.«

      »Gut. Dann lassen Sie mich mal sehen, was wir haben.«

      »Sie wissen es noch nicht?«

      Obwohl Moses ihr Gesicht im Schatten der Lampen kaum erkennen konnte, spürte er, wie Helwig ebenso erstaunt reagierte wie zuvor der Einsatzleiter. Was ihn allmählich ärgerte. Was sollte diese Geheimnistuerei?

      »Warum klären Sie mich nicht einfach auf?«, sagte er genervt. »Also, weswegen sind wir hier?«

      Helwig deutete mit dem Strahl ihrer Taschenlampe auf eine niedrige Tür. Sie stand offen und führte offenbar auf den Dachboden.

      »Da drin«, sagte sie tonlos. »Ist ’ne echt hässliche Sache.«

      Moses fragte sich unwillkürlich, was seine junge Kommissarin wohl unter »hässlich« verstand. Schließlich konnte er sich nicht daran erinnern, im Zuge seiner Arbeit jemals etwas anderes zu Gesicht bekommen zu haben. Der Tod, mit dem er es zu tun hatte, war immer hässlich.

      Er betrat den Dachboden und blickte sich mit der Taschenlampe in der Hand um. Trotz der Dunkelheit war zu erkennen, dass der Speicher leer geräumt war. Auf dem Estrich standen Regenpfützen, und das Dachgebälk war, soweit er im Schein der Lampe erkennen konnte, bis in den Giebel hinauf mit Spinnweben überzogen. Durch die Dachziegel pfiff der kalte Winterwind, und dort, wo er hinleuchtete, tanzten im Lichtstrahl Staubkörner und winzige Federn. Die Größe des Dachbodens überraschte Moses. Er ging um den massiven, gemauerten Kamin herum, der sich in der Mitte des Raums erhob. Plötzlich blieb er stehen. Seine Lampe hatte zwei nackte Füße gestreift. Sie befanden sich eine Handbreit über dem Boden. Langsam ließ er den Lichtstrahl nach oben wandern.

      Jetzt verstand er, was Helwig gemeint hatte.

      Man hatte das Opfer nackt und mit ausgebreiteten Armen an einem der Dachbalken aufgehängt. Das schulterlange flachsblonde Haar des jungen Mannes fiel ihm ins Gesicht, und wären da nicht die unzähligen kleinen Schnitte und Quetschungen gewesen, mit denen sein muskulöser Körper übersät war, hätte man an einen aufgehängten Engel denken können.

      »Ich sagte ja, dass es hässlich ist.« Helwig trat mit ihrer Lampe neben ihn. »Ich finde, so wie er da hängt, sieht es fast wie eine Kreuzigung aus. Irgendwie religiös.«

      Moses sagte nicht, dass er im ersten Moment die gleiche Assoziation gehabt hatte. Mit der Lampe in der Hand trat er einen Schritt näher. Es gab keinen Zweifel, dass der Unbekannte gefoltert worden war. Da sein Kopf vornüber auf der Brust ruhte, musste Moses leicht in die Knie gehen, um das Gesicht hinter den herabfallenden Haaren besser zu sehen. Es glich einer Fratze aus grenzenlosem Entsetzen und unvorstellbaren Qualen. Am Hals konnte er ein dünnes Würgemal erkennen, das seiner Vermutung nach von einem Strick oder Draht herrührte. Das Alter des jungen Mannes schätzte er auf höchstens Ende zwanzig, auch wenn dies bei den herrschenden Lichtverhältnissen und dem Zustand der Leiche nicht eindeutig zu sagen war. Als er sich gerade wieder erheben wollte, stutzte er. Zwischen den blutleeren Lippen des Toten ragte etwas heraus. Es war klein und spitz.

      Moses richtete sich auf.

      »Haben Sie Handschuhe dabei?«, fragte er Helwig.

      Sie reichte Moses ein Paar. »Was haben Sie vor?«

      »Egal«, erwiderte Moses, während er die Handschuhe überstreifte. Dann hob er den Kopf der Leiche vorsichtig mit zwei Fingern an.

      »Das wird der SpuSi aber nicht gefallen«, meinte Helwig.

      Sie verstummte, denn als der Kopf des Toten angehoben wurde und sich der Mund öffnete, fiel etwas auf den Boden. Im Schein ihrer Taschenlampen starrten Moses und Helwig ungläubig auf das seltsame Etwas zu ihren Füßen. In diesem Moment polterte Janssen, der Leiter des KTU-Teams, auf den Dachboden. Er steckte in einem weißen Overall mit Kapuze und schleppte einen Spurensicherungskoffer.

      »Mann, endlich haben wir euch gefunden«, schimpfte er, während er die Kommissare mit seiner Taschenlampe nacheinander anleuchtete. »Die Kollegen draußen auf der Straße meinten, ihr seid irgendwo im Haus. Ihr hättet euch ruhig bemerkbar machen können. Abgesehen davon: Wann merkt ihr euch endlich, dass wir die Ersten vor Ort sind! Wie sollen wir sonst unsere Arbeit machen?«

      Als er seine Lampe schwenkte und die grausam zugerichtete Leiche an dem Dachbalken entdeckte, sog er scharf die Luft ein.

      »Au, Schiet! Das sieht diesmal aber übel aus.«

      Er wollte näher treten, doch dann hielt er inne. Er richtete seine Lampe auf den Boden.

      »Was ist denn das da?«, fragte er verwundert. »Das da vor euren Füßen?«

      Moses und Helwig erwiderten nichts. Stattdessen tauschten sie besorgte Blicke.

      2.

      »Ein Hühnerfuß?!«

      Oberkommissarin Elvers hielt den Plastikbeutel mit dem abgetrennten Fuß ungläubig gegen das Fenster des Besprechungszimmers. Er war gelblich weiß und besaß vier Glieder mit Krallen.

      »Und den hatte er wirklich im Mund?«

      »Exakt«, ächzte Helwig. Sie sah müde aus. »Offenbar besitzt der Mörder einen ziemlich eigenwilligen Humor.«

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