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Charakter der Entfremdungen, ihre Abhängigkeit von der Vergangenheit, von dem Erinnerungsschatz des Ichs und früheren peinlichen Erlebnissen, die vielleicht seither der Verdrängung anheimgefallen sind, wird ihnen nicht ohne Einspruch zugestanden. Aber grade mein Erlebnis auf der Akropolis, das ja in eine Erinnerungsstörung, eine Verfälschung der Vergangenheit ausgeht, hilft uns dazu, diesen Einfluß aufzuzeigen. Es ist nicht wahr, daß ich in den Gymnasialjahren je an der realen Existenz von Athen gezweifelt habe. Ich habe nur daran gezweifelt, daß ich Athen je werde sehen können. So weit zu reisen, es »so weit zu bringen«, erschien mir als außerhalb jeder Möglichkeit. Das hing mit der Enge und Armseligkeit unserer Lebensverhältnisse in meiner Jugend zusammen. Die Sehnsucht zu reisen war gewiß auch ein Ausdruck des Wunsches, jenem Druck zu entkommen, verwandt dem Drang, der so viel halbwüchsige Kinder dazu antreibt, vom Hause durchzugehen. Es war mir längst klar geworden, daß ein großes Stück der Lust am Reisen in der Erfüllung dieser frühen Wünsche besteht, also in der Unzufriedenheit mit Haus und Familie wurzelt. Wenn man zuerst das Meer sieht, den Ozean überquert, Städte und Länder als Wirklichkeiten erlebt, die so lange ferne, unerreichbare Wunschdinge waren, so fühlt man sich wie ein Held, der unwahrscheinlich große Taten vollbracht hat. Ich hätte damals auf der Akropolis meinen Bruder fragen können: Weißt Du noch, wie wir in unserer Jugend Tag für Tag denselben Weg gegangen sind, von der … Straße ins Gymnasium, am Sonntage dann jedesmal in den Prater oder auf eine der Landpartien, die wir schon so gut kannten, und jetzt sind wir in Athen und stehen auf der Akropolis! Wir haben es wirklich weit gebracht! Und wenn man so Kleines mit Größerem vergleichen darf, hat nicht der erste Napoleon während der Kaiserkrönung in Notre-Dame sich zu einem seiner Brüder gewendet – es wird wohl der älteste, Josef, gewesen sein – und bemerkt: »Was würde Monsieur notre Père dazu sagen, wenn er jetzt dabei sein könnte?«

      Hier stoßen wir aber auf die Lösung des kleinen Problems, warum wir uns schon in Triest das Vergnügen an der Reise nach Athen verstört hatten. Es muß so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit gebracht zu haben, ein Schuldgefühl knüpft; es ist etwas dabei, was unrecht, was von alters her verboten ist. Das hat mit der kindlichen Kritik am Vater zu tun, mit der Geringschätzung, welche die frühkindliche Überschätzung seiner Person abgelöst hatte. Es sieht aus, als wäre es das Wesentliche am Erfolg, es weiter zu bringen als der Vater, und als wäre es noch immer unerlaubt, den Vater übertreffen zu wollen.

      Zu dieser allgemein giltigen Motivierung kommt noch für unseren Fall das besondere Moment hinzu, daß in dem Thema Athen und Akropolis an und für sich ein Hinweis auf die Überlegenheit der Söhne enthalten ist. Unser Vater war Kaufmann gewesen, er besaß keine Gymnasialbildung, Athen konnte ihm nicht viel bedeuten. Was uns im Genuß der Reise nach Athen störte, war also eine Regung der Pietät. Und jetzt werden Sie sich nicht mehr verwundern, daß mich die Erinnerung an das Erlebnis auf der Akropolis so oft heimsucht, seitdem ich selbst alt, der Nachsicht bedürftig geworden bin und nicht mehr reisen kann.

      Ich grüße Sie herzlich, Ihr

      Sigm. Freud

      Unglaube auf der Akropolis

      Die nachstehende Begebenheit hat sich vor einem Menschenalter, im Jahr des Kriegs zwischen Rußland und Japan, mit mir selbst ereignet. Ich habe sehr oft an sie gedacht und sie nie recht verstanden.

      Ich pflegte damals alljährlich Ende August oder Anfangs September mit meinem jüngeren Bruder eine Ferienreise anzutreten, die mehrere Wochen dauerte und uns nach Rom, irgend einer Gegend des Landes Italien oder an eine Küste des Mittelmeers führte. In diesem Jahr erklärte mein Bruder, seine Geschäfte gestatteten ihm keine längere Abwesenheit, er könnte höchstens eine kurze Woche wegbleiben, wir müßten unser Reiseziel einschränken. So beschlossen wir, über Triest nach der Insel Korfu zu fahren, um dort unsere wenigen Urlaubstage zu verbringen.

      In Triest machte der Bruder einen Besuch bei einem Geschäftsfreund, der dort ansässig war, ich begleitete ihn. Nach Erledigung der geschäftlichen Interessen erkundigte sich der freundliche Mann nach unseren weiteren Absichten und als er hörte, daß wir nach Korfu wollten, riet er uns dringend ab. »Was wollen Sie um diese Zeit dort machen? Es ist so heiß, daß Sie nichts unternehmen können. Gehen Sie doch lieber nach Athen, der Lloyddampfer geht nachmittags ab, läßt Ihnen drei Tage in der Stadt, Zeit genug, um das Wichtigste zu sehen, und holt Sie wieder auf seiner Rückfahrt. Das wird viel lohnender und angenehmer sein.« Als wir den Triestiner verlassen, waren wir beide in merkwürdig übler Laune. Wir diskutirten den vorgeschlagenen Plan, fanden ihn durchaus unzweckmäßig, sahen auch Hindernisse gegen seine Ausführung, unter anderem, daß wir ja keine Pässe hatten um in Griechenland eingelassen zu werden und irrten die Stunden bis zur Eröffnung des Lloydbureaus entschlußlos und misvergnügt in der Stadt herum. Als die Zeit gekommen war gingen wir an den Schalter und lösten Fahrkarten nach Athen, wie selbstverständlich ohne uns um die angeblichen Schwierigkeiten zu bekümmern, ja ohne die Gründe für unsere Entscheidung gegen einander ausgesprochen zu haben. Dies Benehmen war doch recht sonderbar. Wir anerkannten später, daß wir den Vorschlag, nach Athen anstatt nach Korfu zu gehen, sofort und bereitwillig angenommen hatten. Warum hatten wir also die Zwischenzeit bis zur Öffnung der Schalter in so übler Stimmung verbracht und uns Schwierigkeiten und Abhaltungen vorgespiegelt?

      Als ich dann am Nachmittag nach der Ankunft auf der Akropolis stand und mein Blick die Landschaft umfaßte, kam mir plötzlich der merkwürdige Gedanke: Also existirt das wirklich, wie wir’s in der Schule gelernt haben. Genauer beschrieben, die Person, die eine Äußerung tat, sonderte sich weit schärfer als sonst merklich von einer anderen, die diese Äußerung wahrnahm, und beide waren verwundert, obwohl nicht über das Gleiche. Die eine benahm sich, als müßte sie unter dem Einfluß einer unzweifelhaften Beobachtung an etwas glauben, dessen Realität ihr bis dahin unsicher erschienen war. Mit einer mäßigen Übertreibung: als ob jemand, entlang des schottischen Loch Ness spazierend, plötzlich den an’s Land gespülten Leib des vielberedeten Ungeheuers vor sich sähe und sich zum Zugeständnis gezwungen fände: Also existirt sie wirklich, die Seeschlange, an die wir nicht geglaubt haben. Die andere Person war mit Recht erstaunt, weil sie nicht gewußt hatte, daß die reale Existenz von Athen, der Akropolis und dieser Landschaft jemals ein Gegenstand des Zweifels war. Sie war eher auf eine Äußerung der Entzückung vor Hochschätzung dieses Monuments vorbereitet.

      Die beiden Phänomene gehören wahrscheinlich zusammen. Das erstere erscheint wie die Vorbereitung für’s spätere. Es mag leichter verständlich sein und uns zum Verständnis des anderen verhelfen. Ich meine, es ist auch nur der Ausdruck einer Ungläubigkeit. »Wir sollen Athen besuchen? Aber das geht ja gar nicht, das wird zu schwer sein.« Die begleitende Verstimmung ist vielleicht die Äußerung des Bedauerns, daß es nicht geht. Es wäre so schön gewesen! Und dann merkt man, es ist ein Fall von »too good to be true«, wie er uns so geläufig ist. Ein Fall von jenem Unglauben, der sich häufig zeigt, wenn man durch eine glückbringende Nachricht überrascht wird wie man einen Treffer gemacht, einen Preis bekommen hat, für ein Mädchen, daß der heimlich geliebte Mann bei den Eltern als Bewerber aufgetreten ist u. dgl.

      Ein Phänomen konstatiren, läßt natürlich sofort die Frage nach seiner Verursachung entstehen. Es ist in der Tat befremdend, daß man den Versuch machen sollte, ein Stück der Realität abzulehnen – das will ja der Unglaube – nicht nur wenn es Unlust bringt, denn darauf ist man vorbereitet, sondern auch wenn es im Gegenteil hohe Lust verspricht. Ein paradoxes Verhalten! Ich erinnere mich, daß ich bereits früher einmal den ähnlichen Fall jener Menschen behandelt habe, die »am Erfolge scheitern«. Es wird diesmal ähnlich zugehen, eine innere Versagung an Stelle der äußeren. Die innere Versagung heißt einen, an der äußeren festhalten. Man gönnt sich das Glück nicht. Warum nicht? Weil, lautet die Antwort in einer Reihe von Fällen, man sich vom Schicksal nichts so Gutes erwarten kann. Also wiederum das »too good to be true«, die Äußerung eines Pessimismus, von dem soviel von uns ein großes Stück in sich zu beherbergen scheinen. In anderen Fällen ist es ganz wie bei denen, die am Erfolg scheitern, ein Schuld- oder Minderwertsgefühl, das man übersetzen kann: Ich verdiene es nicht, ich bin eines solchen Glückes nicht würdig. Aber keine Motivirungen sind im Grunde das nämliche. Die eine ist nur eine Projektion der anderen, denn das Schicksal, von dem man nur schlechte Behandlung

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