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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн.Название Guy de Maupassant – Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962817695
Автор произведения Guy de Maupassant
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Sie saß ihm gegenüber und blickte ihn starr und voll innerer Erregung an; sie wunderte sich über seine gespannte Aufmerksamkeit und war voller Eifersucht; die Tränen waren ihr nahe.
Zuweilen sagte sie zu ihm: »Du wirst dich müde machen, mein Schatz!«, denn sie hoffte, dass er die Augen aufschlagen und sie küssen würde. Aber er antwortete nicht einmal; er sah und hörte nichts und wusste von nichts andrem, als was auf den Seiten des Buches stand.
So verschlang er zwei Jahre lang ungezählte Bände. Sein Charakter veränderte sich.
In der Folge bat er Fräulein Source mehrmals um Geld, und sie gab es ihm. Da er aber immer mehr wollte, schlug sie es ihm schließlich aus, denn sie war haushälterisch und energisch und wusste am rechten Platze vernünftig zu sein.
Er setzte ihr aber so lange zu, bis sie ihm eines Abends doch noch einmal eine beträchtliche Summe gab; als er aber ein paar Tage später wiederkam und bettelte, zeigte sie sich unerbittlich und gab tatsächlich nicht mehr nach.
Da schien er seinen Entschluss zu fassen. Er wurde wieder ruhig, wie vordem, saß wieder Stunden lang unbeweglich, ohne einen Ton von sich zu geben, mit gesenkten Augen, in seine Träumereien verloren. Er sprach nicht mehr mit Fräulein Source und antwortete auf ihre Fragen kaum mit kurzen und knappen Sätzen.
Trotzdem war er aufmerksam gegen sie, voller Rücksicht, aber er küsste sie nie mehr.
Am Abend, wenn sie schweigend und unbeweglich rechts und links vom Feuer saßen, flößte er ihr jetzt manchmal Furcht ein. Sie wollte ihn aufrütteln, wollte irgendetwas sagen, um aus diesem schrecklichen Schweigen herauszukommen, das so unheimlich war, wie ein finsterer Wald. Aber er schien sie nicht zu hören, und sie bebte vor Schrecken, die arme alte Jungfer, wenn sie fünf- oder sechsmal zu ihm gesprochen hatte, ohne ein einziges Wort zu bekommen.
Was hatte er? Was ging in diesem verschlossenen Kopfe vor? Wenn sie so zwei oder drei Stunden ihm gegenüber gesessen hatte, fühlte sie den Wahnsinn nahen; sie wollte fliehen und sich ins Freie retten, um diesem ewigen stummen Beisammensein zu entgehen, sie bangte vor einer unbestimmten Gefahr, ohne doch recht zu wissen, weshalb.
Und oft weinte sie ganz allein.
Was hatte er? Sprach sie einen Wunsch aus – er führte ihn ohne Murren aus. Brauchte sie etwas aus der Stadt – sogleich ging er hin. Sie hatte sich über ihn gewiss nicht zu beklagen. Und doch…
So verging noch ein Jahr, und es schien ihr, als hätte sich in dem Geiste des geheimnisvollen Jungen eine neue Wandlung vollzogen. Sie spürte es, sie ahnte es, sie wusste nicht wie, aber sie war dessen sicher; sie wusste, dass sie sich nicht täuschte, aber sie wäre nicht imstande gewesen zu sagen, worin die unbekannten Gedanken dieses seltsamen Knaben sich geändert hatten.
Ihr schien nur, als ob er bis dahin ein zauderndes Menschenkind gewesen wäre und jetzt plötzlich einen Entschluss gefasst hätte. Dieser Gedanke kam ihr eines Abends, als sie seinem Blicke begegnete, einem eigentümlichen, starren Blicke, den sie nicht kannte.
Allmählich begann er sie alle Augenblicke so anzusehen, und sie hätte sich dann am liebsten versteckt, um diesem kalten Auge auszuweichen, das auf ihr ruhte.
Bald blickte er sie ganze Abende lang an und wandte den Blick nur ab, wenn sie es schließlich nicht mehr ertragen konnte und zu ihm sagte:
– Sieh mich doch nicht immer so an, mein Kind!
Dann senkte er den Kopf.
Sobald sie ihm aber den Rücken gekehrt hatte, fühlte sie von Neuem sein Auge auf ihr ruhen. Wohin sie auch ging, überall verfolgte er sie mit seinen beharrlichen Blicken.
Manchmal, wenn sie in ihrem Gärtchen spazieren ging, erblickte sie ihn plötzlich in einem Gebüsche zusammengekauert, als ob er im Hinterhalt läge. Oder wenn sie in ihrer Haustür saß und Strümpfe ausbesserte, während er ein Gemüsebeet umgrub, blickte er sie bei der Arbeit mit heimtückischen Blicken unausgesetzt an.
Vergebens fragte sie ihn:
– Was hast du, mein Kleiner? Seit drei Jahren bist du so ganz anders geworden. Ich erkenne dich nicht mehr wieder. Sage mir doch, was du hast, was du denkst, ich beschwöre dich.
Er antwortete dann immer mit demselben ruhigen, ermüdeten Tone:
– Aber ich habe nichts, Tante.
Und wenn sie in ihn drang und ihn beschwor:
– Mein Kind, antworte mir doch, antworte mir doch, wenn ich dich frage. Wenn du wüsstest, welchen Kummer du mir bereitest, du würdest mir immer antworten und würdest mich nicht immer so anblicken. Hast du irgend ein Leid? Sage’s mir, ich werde dich trösten…
Dann ging er mit müdem Wesen und murmelte:
– Ich versichere dich, ich habe nichts.
Er war nicht viel größer geworden; er hatte immer noch das Ansehen eines Kindes, wiewohl er die Züge eines Mannes trug. Sie waren hart und doch unfertig. Er schien unvollendet, schlecht geraten und gleichsam nur hingeworfen zu sein, und beunruhigend war er wie ein Geheimnis. Ein verschlossenes, undurchdringliches Wesen, in dem jeden Augenblick eine tätige und gefährliche Geistesarbeit vor sich zu gehen schien.
Fräulein Source empfand das alles sehr wohl und schlief vor Angst nicht mehr. Schreckliche Beklemmungen, entsetzliche Träume quälten sie oft. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein und verbarrikadierte ihre Tür; so ängstigte sie das Unbestimmte.
Wovor fürchtete sie sich? Sie wusste es selber nicht. Sie fürchtete sich vor allem, vor der Nacht, den Wänden, den Gestalten, die der Mond durch die geblümten weißen Vorhänge hindurchwarf, und vor allem – vor ihm!
Warum? Was hatte sie zu fürchten? Wusste sie es?
Und doch konnte sie so nicht länger leben. Sie war sicher, dass ein Unglück sie bedrohte, ein schreckliches Unglück.
Eines Morgens brach sie insgeheim auf und ging nach der Stadt zu ihren Verwandten. Sie erzählte ihnen alles mit bebender Stimme. Die beiden Frauen dachten, dass sie verrückt würde, und suchten sie zu beruhigen.
– Wenn ihr nur wüsstet, klagte sie, wie er mich von morgens bis abends anstarrt! Seine Augen verlassen mich nie. Zuweilen möchte ich am liebsten um Hilfe schreien und die Nachbarn herbeirufen, so fürchte ich mich. Aber was sollte ich ihnen sagen? Er tut mir ja nichts, als dass er mich anblickt.
– Ist er denn zuweilen brutal gegen dich? fragten die beiden Kousinen. Gibt er dir freche Antworten?
–