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ih­ren Ar­bei­ten et­was in die Höhe ge­zo­gen war. Ihre un­ru­hi­gen und be­küm­mer­ten Mie­nen spra­chen aus­ser­dem noch von häus­li­chen Nö­ten, dro­hen­den Geld­sor­gen und von der gänz­li­chen Ver­nich­tung einst­mals viel­leicht glän­zen­der Hoff­nun­gen. Sie schie­nen alle zu je­ner Klas­se ar­mer Teu­fel zu ge­hö­ren, die in ei­nem je­ner klei­ner weiß­ge­stri­che­nen Häu­schen mit ei­nem Stück­chen Gar­ten, wie man sie auf dem Lan­de in der Um­ge­gend von Pa­ris zu Tau­sen­den fin­det, nur mit grös­ster Spar­sam­keit ihr Da­sein fris­ten.

      Ganz nahe an der Türe sass ein klei­ner un­ter­setz­ter Herr mit auf­ge­dun­se­nem Ge­sicht, des­sen Bauch so­zu­sa­gen zwi­schen sei­nen ge­öff­ne­ten Schen­keln ruh­te. Er war ganz schwarz ge­klei­det und trug ein Or­dens­band im Knopf­loch. Sein Ge­gen­über, mit dem er sich eif­rig un­ter­hielt, war ein großer, ma­ge­rer Mann von nach­läs­si­gem Äus­se­ren. Sein wei­ßer Dril­lich-An­zug war sehr schmut­zig, und auf dem Kop­fe trug er einen al­ten eben­falls stark mit­ge­nom­me­nen Pa­na­ma-Hut. Der ers­te Herr sprach lang­sam, so­dass er zu­wei­len den Ein­druck ei­nes Stot­terers mach­te; es war Herr Ca­ra­van, Bü­ro­be­am­ter im Ma­ri­ne­mi­nis­te­ri­um. Der an­de­re war frü­her Kran­ken­wär­ter an Bord ei­nes Han­dels­schif­fes ge­we­sen und hat­te sich schliess­lich in Cour­be­voie nie­der­ge­las­sen, wo er bei der är­me­ren Be­völ­ke­rungs­klas­se den Rest von me­di­zi­ni­schen Kennt­nis­sen ver­wer­te­te, den er sich aus sei­nem dunklen aben­teu­er­li­chen Le­ben be­wahrt hat­te. Er hiess Che­net und hör­te sich ger­ne »Dok­tor« nen­nen; über sei­nen Cha­rak­ter gin­gen al­ler­lei Gerüch­te her­um.

      Herr Ca­ra­van hat­te von je­her das gleich­mäs­si­ge Le­ben ei­nes Bü­ro­men­schen ge­führt. Seit dreis­sig Jah­ren ging er un­ver­än­der­lich je­den Mor­gen auf dem­sel­ben Wege in sein Büro, be­geg­ne­te zu der­sel­ben Stun­de und an den­sel­ben Stel­len den­sel­ben Leu­ten, die ih­ren Ge­schäf­ten nach­gin­gen; und eben­so kehr­te er abends auf dem­sel­ben Wege zu­rück, wo er noch die­sel­ben Ge­sich­ter sah, die er schon vor dreis­sig Jah­ren ge­se­hen hat­te.

      Je­den Tag, nach­dem er sich an ei­ner Ecke des Fau­bourg Saint-Ho­noré sein Sou-Blätt­chen ge­kauft, hol­te er sich sei­ne zwei Bröd­chen und ging dann ins Mi­nis­te­ri­um, wie ein Ver­ur­teil­ter, der sei­ne Haft an­tre­ten will; schnell trat er in sein Büro ein, denn er wur­de die ste­te in­ne­re Un­ru­he nicht los, ob er nicht bei sei­ner An­kunft ir­gend einen Ta­del we­gen ei­nes Ver­se­hens zu er­war­ten hät­te.

      Nichts hat­te bis­her die ein­för­mi­ge Ord­nung sei­nes Da­seins ge­än­dert, denn aus­ser sei­nen Bü­ro­ge­schäf­ten, Avan­ce­ments und Gra­ti­fi­ka­tio­nen be­rühr­ten ihn die sons­ti­gen Er­eig­nis­se nicht. Moch­te er nun im Mi­nis­te­ri­um oder in sei­ner Fa­mi­lie sein (er hat­te näm­lich die Toch­ter ei­nes Kol­le­gen, ohne jede Mit­gift, ge­hei­ra­tet), nie­mals sprach er von et­was an­de­rem als vom Dienst. Sein durch die geist­tö­ten­de täg­li­che Ar­beit ver­knö­cher­ter Sinn hat­te kei­ne an­de­ren Ge­dan­ken, kei­ne an­de­ren Träu­me und Hoff­nun­gen mehr, als die, wel­che sich auf sein Mi­nis­te­ri­um be­zo­gen. Aber eins ver­bit­ter­te ihm stets die Selbst­zu­frie­den­heit sei­nes Be­am­ten­da­seins: die Zu­las­sung der Ma­ri­ne-Kom­missa­re, der Klemp­ner, wie man sie ih­rer sil­ber­nen Lit­zen we­gen nann­te, zu den Stel­len der Sous-Chefs und so­gar der Chefs; und je­den Abend beim Es­sen de­mons­trier­te er sei­ner Frau, die üb­ri­gens ganz sei­nen Groll teil­te, un­ter leb­haf­ten Ge­bär­den vor, wie un­ge­recht es auf alle Fäl­le sei, die Stel­len in Pa­ris mit Leu­ten zu be­set­zen, die na­tur­ge­mä­ss für das See­le­ben be­stimmt wä­ren.

      Er war jetzt alt ge­wor­den, ohne zu be­mer­ken, wie das Le­ben ver­flog; denn das Gym­na­si­um hat­te ohne ei­gent­li­che Un­ter­bre­chung sei­ne Fort­set­zung im Büro ge­fun­den und die Leh­rer, vor de­nen er frü­her ge­zit­tert hat­te, wa­ren jetzt durch die Chefs er­setzt, vor de­nen er bei­na­he noch eine grös­se­re Angst hat­te. An der Schwel­le die­ser Büro-De­spo­ten über­lief ihn stets ein hei­li­ger Schau­er, und von die­ser fort­ge­setz­ten Ängst­lich­keit hat­te er sich all­mäh­lich eine lin­ki­sche Art des Auf­tre­tens, die­se de­mü­ti­ge Hal­tung, die­ses ge­wis­se ner­vö­se Stot­tern an­ge­wöhnt.

      Er kann­te von Pa­ris ei­gent­lich nicht viel mehr, als ein Blin­der, der von sei­nem Hun­de täg­lich an den­sel­ben Stand­platz ge­führt wird, und wenn er in sei­nem Sou-Blätt­chen die täg­li­chen Neu­ig­kei­ten und Skan­dal-Ge­schich­ten las, so durch­flog er sie wie hüb­sche Mär­chen, die ei­gens er­fun­den wa­ren, um den klei­nen Be­am­ten et­was Un­ter­hal­tungs­stoff zu bie­ten. Ein Mann der Ord­nung, ein Re­ak­tio­när ohne be­stimm­te Par­tei­rich­tung, aber ein ab­ge­sag­ter Feind al­ler Neue­run­gen, über­schlug er die po­li­ti­schen Nach­rich­ten, wel­che sein Blatt üb­ri­gens, je nach­dem es be­zahlt wur­de, ent­spre­chend ent­stell­te. Und wenn er abends die Ave­nue des Champs-Elysées wie­der her­auf­ging, so be­trach­te­te er die hin- und her­wo­gen­de Men­ge der Spa­zier­gän­ger und das Ge­trie­be der Wa­gen, wie ein hei­mat­lo­ser Wan­de­rer, der frem­de Ge­gen­den durch­quert.

      Da er zu eben die­ser Zeit sei­ne dreis­sig Dienst­jah­re hin­ter sich hat­te, so hat­te man ihm zum 1. Ja­nu­ar das Kreuz der Ehren­le­gi­on über­reicht, wo­mit man bei den Mi­li­tär-Ver­wal­tun­gen die lan­ge und elen­de Skla­ve­rei -- man nennt sie: »Red­li­che Diens­te« -- be­lohnt, in der die­se ar­men Sträf­lin­ge am grü­nen Ti­sche schmach­ten. Die­se un­er­war­te­te Aus­zeich­nung, wel­che ihm von sei­nen Be­fä­hi­gun­gen einen ganz neu­en und ho­hen Be­griff bei­brach­te, hat­te in sei­nem We­sen eine voll­stän­di­ge Um­wäl­zung her­vor­ge­ru­fen. Von nun an ver­bann­te er sei­ne far­bi­gen Ho­sen und Fan­ta­sie-Wes­ten; er trug nur noch schwar­ze Bein­klei­der und lan­ge Über­rö­cke, auf de­nen sein sehr brei­tes Band sich bes­ser aus­nahm. Je­den Mor­gen war er glatt ra­siert, sei­ne Nä­gel pfleg­te er mit Sorg­falt, und alle zwei Tage wech­sel­te er die Wä­sche in ei­nem ganz rich­ti­gen Ge­fühl der Hochach­tung und Ehr­furcht vor dem na­tio­na­len Or­den, den er trug. So war er über Nacht ein an­de­rer, ein selbst­be­wus­s­ter, zu­ge­knöpf­ter und her­ab­las­sen­der Ca­ra­van ge­wor­den.

      Zu Hau­se sprach er bei je­der Ge­le­gen­heit von »sei­nem Kreu­ze.« Er war dar­in so ei­fer­süch­tig, dass er nicht ein­mal im Knopf­loch ei­nes an­de­ren ir­gend ein bun­tes Band se­hen konn­te. Vor al­lem er­ei­fer­te er sich beim An­blick frem­der Or­den, »die man in Frank­reich gar nicht zu tra­gen er­lau­ben soll­te.« Er be­ton­te dies be­son­ders mit Be­zug auf den »Dok­tor« Che­net, den er je­den Abend auf der Tram­way mit ir­gend ei­ner weiß-blau­en, oran­ge­far­be­nen oder grü­nen De­ko­ra­ti­on im Knopf­loch an­traf.

      Die Un­ter­hal­tung die­ser bei­den vom Arc de Triom­phe bis Neuil­ly war üb­ri­gens täg­lich die glei­che; und auch heu­te be­schäf­tig­ten sie sich, wie im­mer, mit lo­ka­len Übel­stän­den, über die sie sich bei­de är­ger­ten, wäh­rend der Maire von Neuil­ly sie viel zu leicht neh­me. Dann brach­te Ca­ra­van, wie das in Ge­gen­wart ei­nes Arz­tes ja stets ge­schieht, das Ge­spräch auf das Ka­pi­tel der Krank­hei­ten, in­dem er hoff­te, auf die­se Wei­se ei­ni­ge ärzt­li­che Ratschlä­ge gra­tis zu er­hal­ten. Sei­ne Mut­ter mach­te ihm üb­ri­gens seit ei­ni­gen Ta­gen wirk­lich Sor­gen. Sie hat­te öf­ters län­ge­re Ohn­machts­an­fäl­le

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