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      Proud atmete tief durch und verließ die Sterbestation. Er wählte den Weg durch die Pathologie, da war um diese Zeit wenig los und das Risiko, jemandem zu begegnen, eher gering. Jedenfalls war das normalerweise so. Heute Nacht vernahm er Stimmen, die ganz offensichtlich miteinander stritten.

      Fuck! Waren ihm nicht mal fünf Minuten Ruhe vergönnt? Er wollte sich gerade umdrehen und doch den Weg Richtung Hauptausgang nehmen, als er einen Namen aufschnappte.

      »… wird Samuel es auch nicht aufhalten können.«

      Samuel! Der Samuel? Es wäre ein zu großer Zufall, wenn jemand, der sich in dieser Klinik hier über Samuel unterhielt, jemand anderen meinte als van Vaughn.

      Proud drückte sich an die Wand zum Flur und lauschte dem Gespräch, das draußen stattfand.

      »Er wird trotzdem alles versuchen.«

      »Das spielt keine Rolle mehr. Es ist zu viel geschehen. Man kann es nicht aufhalten. Das wird er ihm schon noch begreiflich machen. Das ist nicht unser Problem.«

      Proud kannte eine der beiden Stimmen. Er versuchte, sich zu konzentrieren und dann fiel es ihm ein. Dieser Stellvertreter von Swan. Landon. Was wusste der Kerl über van Vaughn?

      »Die Unterlagen sind bereits zerstört. Das Risiko ist zu groß, wir haben es nicht mehr unter Kontrolle. Bitte, Sie müssen es beenden. Wenn wir es so aussehen lassen, als wäre es erneut ein medizinisches Problem …«

      Landons Gesprächspartner lachte kalt. »Haben Sie mich nicht verstanden, Landon? Niemand kann es beenden. Es ist zu spät. Wenn wir nicht tun, was er will, dann sind wir nichts als Futter oder Schlimmeres. Ich habe meine Seele nicht verkauft, um mir praktisch selbst die Kehle aufzuschlitzen.«

      Es trat ein kurzes Schweigen ein. Proud überlegte, ob er es wagen konnte, aus seinem Versteck zu kommen, um einen besseren Blick zu gewinnen, aber dann hörte er, wie die beiden Männer in seine Richtung kamen.

      »Ich habe Angst, Whigfield. Verstehen Sie? Das ist alles ’ne Nummer zu groß.«

      Die beiden passierten Proud, ohne ihn zu bemerken. In den Augen des Chefarztes von St. John erkannte er nackte Panik. Was hatte er sich davon versprochen, mit den Uriel zu paktieren? Oder mit wem auch immer? Ewiges Leben? Unbesiegbarkeit? Die Achtung all seiner Kollegen, weil er die Geheimnisse der Medizin entschlüsselte? Echt zu viel Hollywood-Klischee.

      »Eine Nummer zu groß?«, höhnte der andere Arzt, den Landon Whigfield genannt hatte. »Landon, Sie wissen überhaupt nicht, wie groß diese Sache ist. Aber das hätten Sie sich eher überlegen müssen. Wenn Sie jetzt einen Rückzieher machen, dann sind Sie nicht mehr tragbar.«

      Die Schritte verstummten. Die beiden mussten in etwa auf Höhe des klinikeigenen Krematoriums angekommen sein.

      »Wie meinen Sie das?« In der Stimme von Landon schwang Angst mit und eine Ahnung, die es Proud kalt über den Rücken laufen ließ.

      »Dass Sie ein Risiko sind, Landon. Und er duldet keine Risiken.«

      Das Nächste, was Proud hörte, war ein Keuchen, gefolgt von einem Geräusch, als wäre etwas Plumpes auf dem Boden aufschlagen. Wie ein alter Teppich, oder … ein Mensch.

      Vorsichtig sah Proud um die Ecke. Landon lag auf dem Klinikflur. Aus seiner Brust ragte ein Chirurgenskalpell. Präziser Stich in die linke Herzkammer. Die Augen waren weit aufgerissen, aber leer.

      Whigfield blickte sich verstohlen um, ehe er den Körper auf seine Schulter wuchtete und durch die Tür zum Krematoriumsofen verschwand. Es war nicht nötig, ihm zu folgen, Proud war auch so klar, dass man von Landon nur noch Staub und Asche finden würde.

      Die ersten Sonnenstrahlen waren wie eine Erlösung. Endlich in Sicherheit. Aber Rahul konnte sich nur bedingt darüber freuen, denn die vergangene Nacht hatte seine junge Gefährtin viel gekostet. Zeyda taumelte mehr als dass sie lief. Noch so eine Tortur würde sie nicht überstehen. Sie mussten den Tag nutzen und fliehen. Weit weg. Nur wie?

      Rahul hätte niemals gedacht, dass er einmal zu den Azrae gehören würde, die einen Halbengel erweckten, aber es war geschehen und seit diesem Moment waren sie auf der Flucht vor Raj, dem Grigorioberhaupt von Kalkutta, und seinem Sohn Dev, der Jagd auf alle Nephilim machte, die sich auf dem asiatischen Kontinent herumtrieben. Dass sie letzte Nacht entkommen konnten, war ein glücklicher Zufall, nicht mehr. Noch immer klebten Reste des Blutes von Rajs jüngstem Sohn an Rahuls Händen und machten ihn schier wahnsinnig. Wenn er sie nicht bald abwaschen konnte, würde die Versuchung übermächtig werden, und ihm graute vor den Folgen, die das mit sich bringen würde.

      Es gab nur einen, an den er sich wenden konnte. Hoffentlich wusste der einen Weg.

      Endlich standen sie vor dem kleinen Kräuterladen, hinter dessen Fassade sich so viel mehr verbarg, als die gewöhnliche Kundschaft ahnte.

      Eingeweihte sprachen davon, dass der Inhaber des Ladens bereits Hunderte von Jahren alt war, und wenn man in sein runzliges Gesicht blickte, das von wirrem grauem Haar umrahmt wurde, fiel es einem nicht schwer, das zu glauben, auch wenn Rahul wusste, dass es nicht so war.

      Sie gingen am Vordereingang vorbei, bogen in die Seitenstraße ein und hielten schließlich vor einer niedrigen Tür an. Rahul hob die Hand und klopfte mehrfach in einem bestimmten Rhythmus, den er vor nunmehr achtundvierzig Jahren gelernt hatte.

      Es dauerte einen Moment, dann hörte man, wie im Inneren mehrere Riegel zurückgeschoben und Ketten gelöst wurden. Endlich schwang die Tür auf und der Hausherr blickte überrascht zu ihnen auf.

      »Rahul!«

      Veer war sein ältester Freund und das gleich im doppelten Sinn. Der grauhaarige Mann zählte inzwischen beinah neunzig Jahre, und Rahul kannte ihn, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Alles, was er über die Nephilim wusste, hatte er von ihm erfahren. Veer war außerhalb seiner Familie, von der inzwischen dank der Grigori keiner mehr übrig war, der Einzige, der über Rahuls wahre Natur Bescheid wusste.

      »Können wir reinkommen, Veer? Zeyda braucht ein wenig Ruhe.« Er deutete auf die junge Frau in seinem Arm, deren Lider flatterten. Sie war kaum noch bei Bewusstsein.

      »Mir scheint, deine Freundin ist da nicht die Einzige«, antwortete Veer besorgt, ehe er beiseitetrat und Rahul mit seiner Begleiterin einließ.

      Hinter dem eigentlichen Laden verbarg sich Veers bescheidene Wohnung. Dort legte Rahul Zeyda auf einem alten Diwan nieder. Es dauerte nur wenige Augenblicke, und sie war fest eingeschlafen.

      »Es ist besser so. Ich kümmere mich später um sie«, murmelte Veer. Er rieb sich das von grauen Bartstoppeln übersäte Kinn, während Rahul seine Hände mit Wasser und Seife wusch, um endlich den Geruch des Grigoriblutes loszuwerden.

      Anders als sonst, wirkte sein Freund angespannt. Instinktiv blickte Rahul sich um, meinte selbst ein seltsames Vibrieren in der Luft zu spüren. Etwas war anders als sonst. Stiller, obwohl der Laden um diese Uhrzeit längst geöffnet und in der Regel gut besucht war. Veer schien sich an der fehlenden Kundschaft nicht zu stören. Ja, nicht einmal verwundert zu sein. Der Alte konzentrierte sich ganz auf Rahul und lenkte seine Gedanken damit wieder ab.

      »Nun erzähl, mein Freund, was ist geschehen?«

      Rahul fuhr sich durch die kurzen schwarzen Haare und anschließend übers Gesicht. Voller Sorge lag sein Blick auf Zeyda, über die er kaum mehr wusste, als das, was er in sich aufgesogen hatte, während er von ihr trank. Im Schnelldurchlauf erlebte er noch einmal alles, was bei ihrer ersten Begegnung geschehen war. Diese Verbindung – das Erkennen – die unbezwingbare Sehnsucht in seinem Herzen … und in ihrem auch. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie von einem anderen Menschen getrunken als den Todgeweihten. Seine Seele war somit rein. Jedenfalls sagte Veer das. Aber machte ihn das zu einem der Azrae, die eine Nephilim erweckten? Oder wovon hing so was ab? Und Zeyda? Sie war allein, ohne Familie. In einem Heim aufgewachsen, wo sie heute selbst als Erzieherin arbeitete. Zufall? Oder alles vorherbestimmt? Die Antworten auf diese

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