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digitale Italienerin ließ sich vom barschen Ton nicht aus der Fassung bringen: »Ciao, Herr Huang. Besuchen Sie uns bald wieder.«

      Noch bevor Huang die nächste Kreuzung erreichte, signalisierte der Kommunikator, dass die Ausgehzeit zur Hälfte abgelaufen war.

      Huang beschloss, nicht auf der gegenüberliegenden Seite zurückzugehen, sondern einen anderen Heimweg einzuschlagen. Er bog an der nächsten Ecke rechts ab. Die Straße ähnelte der, in der er wohnte. An einigen Fenstern und Balkonen in den oberen Stockwerken hingen Pflanztröge. Ein paar bunte Blumen trotzten darin wacker dem kühlen Herbstwetter.

      Etwas berührte Huangs linke Hand. Er zuckte zusammen. Erschrocken sah er, wie eine fette Fliege über den Knöchel in Richtung Jackenärmel krabbelte. Mit einer hastigen Bewegung seiner Rechten scheuchte er das Vieh weg. Dieses flog zwar auf, statt aber das Weite zu suchen, machte es sich daran, summend seinen Kopf zu umkreisen. Es war eine Fliege von der trägen Sorte, wie man sie in der kalten Jahreszeit antrifft.

      Wild mit den Armen fuchtelnd versuchte Huang, das Insekt zu vertreiben. Woraufhin dieses zielstrebig seine rechte Wange ansteuerte. Dort kroch es eilig auf die Gesichtsmaske zu, um darunter Deckung zu suchen. Die Fliege zwängte sich zwischen Stoff und Haut. Genau in diesem Augenblick schlug Huang zu.

      Und im selben Moment schoss es ihm durch den Kopf.

      Die Schutzcreme. Er hatte die Schutzcreme vergessen! Die virenabweisende Salbe fürs Gesicht. Weil im Desinfektor Mund und Nase abgedeckt sein mussten, fehlte in diesem Bereich der Schutzfilm, mit dem der ganze übrige Körper überzogen wurde. Daher war es erforderlich, die Creme nachträglich aufzutragen.

      Noch nie zuvor hatte Huang das vergessen. Aber heute kam diese Lieferung dazwischen. Ausgerechnet, als er aus dem Desinfektor stieg. Nach dem Ausräumen hatte er nicht mehr daran gedacht.

      Huang riss sich die Maske vom Gesicht. Am Rand klebte die zermalmte Fliege. Er schüttelte die Insektenleiche ab. Ein braunroter Fleck markierte den Punkt, ab dem das Tier sein Ende fand. Voller Ekel wischte sich Huang mit dem Jackenärmel über die Wange.

      »Hey, hallo«, brüllte eine aufgebrachte Stimme hinter seinem Rücken.

      Huang wandte sich um.

      »Sind Sie völlig daneben?« Ein beleibter Herr in knielangem grauem Mantel zeigte ihm aus sicherer Entfernung einen Vogel. Geifernd drang seine Stimme durch den Mundschutz: »Setzen Sie ihre Maske wieder auf! Und schauen sie gefälligst nach vorne. Wollen Sie mich infizieren?«

      Eine Frau, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegenkam, blieb stehen und starrte entgeistert herüber.

      Huang hob beschwichtigend die Arme. »Eine Flie…«, er brach mitten im Wort ab. Das brauchte er diesen Leuten nicht auf die Nase zu binden. Womöglich lösten die deswegen noch einen Großalarm aus.

      Der hinter ihm hörte ohnehin nicht zu. »Maske aufsetzen, habe ich gesagt«, tobte er.

      Huang starrte voller Grauen auf den rotbraunen Klecks auf dem Stoff.

      »So etwas Unverantwortliches«, kreischte die Frau gegenüber. »Das gehört gemeldet!«

      Huang überwand seine Abscheu und zog die Maske über. Hastig setzte er seinen Weg fort. Er konnte den rotbraunen Fleck förmlich auf der Haut spüren. Es fühlte sich an, als würden dort die Fliegenbeine immer noch herumkrabbeln. Aber er zwang sich, nicht hinzugreifen. Die Hände vom Gesicht fernzuhalten, war eine der wichtigsten Überlebensregeln im Zeitalter der Pandemien.

      Wo kam diese verfluchte Fliege überhaupt her? Die Straßen waren klinisch sauber. Nachts beseitigten automatische Reinigungsmaschinen jedes Staubkörnchen. Sie sprühten die kleinsten Winkel mit Desinfektionsmittel aus.

      Die Blumenkästen. Huangs Blick wanderte die Fassaden entlang zu den Pflanztrögen. Natürlich. Eine Brutstätte für Ungeziefer. Dachten sich die Leute denn überhaupt nichts dabei? Das gehörte verboten.

      Sirenengeheul lenkte seinen Blick auf die Straße zurück. Ein Ordnungsscooter rollte mit Blaulicht auf ihn zu. Er war gut doppelt so schnell unterwegs wie die Lieferscooter. Drei Schritte vor Huang scherte das autonome Gefährt vom Scooter-Weg aus und blockierte den Gehweg. Ein rotes Licht leuchtete oben auf der Stirnseite auf.

      Huang wusste, was das bedeutete. Also hatte ihn doch jemand gemeldet. Was ja im Grunde seine Ordnung hatte, absolut. Die Schutzbestimmungen schrieben vor, jeden Verstoß sofort anzuzeigen. Man wurde über den Kommunikator ja auch laufend gebeten, in dieser Beziehung mitzuhelfen. Einheit macht uns stark.

      Das rote Licht war eine Aufforderung, sofort stehenzubleiben. Huang gehorchte. Der Ordnungsscooter glitt langsam auf ihn zu und stoppte kaum einen Fingerbreit vor seinen Schuhspitzen. Er war etwa kniehoch und erinnerte in seiner Form an ein früheres Automodell. Dieser Umstand verbunden mit dem Blaulicht und allerlei anderen Signallampen auf dem gewölbten Rumpf trug dem automatischen Gesundheitspolizisten im Chatjargon den Spitznamen Leuchtkäfer ein.

      Ein Kameraauge richtete sich auf Huangs Gesicht. Das kam nicht unerwartet. Regelmäßige Infoclips klärten die Bürger darüber auf, was hinter dem gewölbten Kunststoffgehäuse ablief. Zuerst schloss sich das System mit dem Kommunikator der auffällig gewordenen Person kurz. Zur Identitätsfeststellung. Um jeden Zweifel auszuschließen, folgte eine Überprüfung mittels Gesichtserkennungssoftware, daher das Kameraauge. Sodann maßen Sensoren die Körpertemperatur, lauschten dem Herzschlag und prüften alle möglichen anderen Vitalfunktionen, soweit dies ohne Berührung möglich war. All das verglich der integrierte Rechner mit den vom Netz heruntergeladenen medizinischen Daten und der Krankheitsgeschichte des Diagnosesubjekts.

      Huang mühte sich, gelassen dreinzuschauen. Er war sich darüber im Klaren, dass der Leuchtkäfer seine Gesichtszüge prüfte. Künstliche Intelligenz suchte nach Anzeichen negativer Emotionen wie Zorn, Verbitterung oder Schmerz. Bei begründetem Verdacht auf eine Abnormität oder gar eine Infektion würde innerhalb von Minuten ein Einsatzfahrzeug der Antivirusstaffel anrücken.

      Was Rabion-40 so bösartig machte, war seine Übertragbarkeit durch Insekten. Niemand wusste das besser als Huang. Schließlich hatte er selbst das Virus mit dieser Eigenschaft versehen. Des Effektes wegen. Und diese tückische Fähigkeit schien der wirkliche Erreger tatsächlich zu besitzen. Möglicherweise zumindest. Das ging klar aus der Dokumentation im Morgenbulletin hervor.

      Aber, beruhigte sich Huang, so schnell schaffte es selbst Rabion-40 nicht, Symptome zu entwickeln. Da konnte der Leuchtkäfer messen und prüfen so viel er wollte. Der Vorfall mit der Fliege lag nur wenige Minuten zurück. Jedes Virus hatte eine Inkubationszeit von wenigstens ein paar Tagen. Außerdem war ja keineswegs gesagt, dass ausgerechnet diese verdammte Fliege infiziert gewesen war.

      Der Kommunikator meldete eine Nachricht.

      Von der Gesundheitspolizei: »Nach einer eingegangenen Meldung haben Sie während Ihres Ausganges die Gesichtsmaske abgenommen. Trifft dies zu – ja oder nein?«

      »Ja.« Leugnen war zwecklos. Irgendeine Überwachungskamera hatte den Vorfall mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gefilmt.

      »Bitte begründen sie den Ordnungsbruch«, textete der amtliche Chatbot.

      Fieberhaft überlegte Huang. Sollte er die Geschichte mit der Fliege preisgeben? Lieber nicht. Wer wusste, was das für Komplikationen nach sich ziehen würde. Was gab es sonst für eine plausible Begründung? Etwas Unverdächtiges? Zu viel Zeit durfte er sich nicht lassen. Auch das erregte womöglich Verdacht.

      Am besten nahe an der Wahrheit bleiben. »Ich dachte, etwas ist mir hineingekrochen. Aber es war nichts.«

      »Danke. Bitte halten Sie sich künftig an die Schutzregeln.«

      »Selbstverständlich.« War es das dann?

      Das Stirnlicht des Leuchtkäfers sprang auf Grün. Huang atmete auf. Aber ohne es sich äußerlich anmerken zu lassen. Der Ordnungsscooter schob sich im Rückwärtsgang auf den Scooter-Weg zurück und glitt von dannen. Huang nahm seinen Heimweg wieder auf.

      Der Kommunikator meldete

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