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ähnliches Problem trat bei der Projektion des Globus auf eine ebene Landkarte auf: Wo wird das Bild verzerrt und wo bleibt es invariant? Oder: Winkel sind invariant gegenüber Skalierung, Drehung oder Spiegelung. Die Frage nach dem Gleichbleibenden taucht immer und immer wieder auf.

      Diese praktischen Fragen führten zu einer Vielzahl von komplexen Fragestellungen. Dabei hatte sich als ein zentrales Problem die Frage nach der Endlichkeit der Basis eines Invariantensystems herauskristallisiert. Was das genau ist, muss hier nicht interessieren. An der Lösung dieses Problems arbeiteten die Mathematiker mit der größten Ausdauer, denn sie schien seitenlange Rechnungen zu erfordern. Der größte Ruhm warte auf den, der sich am seltensten verrechnete. Hilbert hatte sich mit dem Problem in seiner Habilitationsschrift beschäftigt und konnte ebenfalls als Experte gelten. Da er aber, wie er von sich selbst immer wieder sagte, nicht der Fleißigste war, kam er irgendwann auf die Idee, nach einem einfacheren Weg zu suchen, als nur Papier mit Gleichungssystemen zu füllen. Und diese Idee war sein Durchbruch. Anstatt Gleichungssysteme zu bearbeiten, fragte Hilbert sich, welches die Konsequenzen wären, wenn es keine endliche Basis gäbe, und fand heraus, dass dies zu einem Widerspruch führen würde. Damit konnte er zwar nicht sagen, wie eine konkrete Basis aussah, aber er wusste, dass es sie gab.32

      Damit geriet Hilbert in einen Proteststurm aus der Richtung all der Mathematiker, die gerne Gleichungen lösten und Freunde konkreter Konstruktionen waren. Ihnen schien es ein logischer Taschenspielertrick zu sein, was Hilbert sich da erlaubte. Paul Gordan, bis zu Hilberts Auftritt der »König der Invarianten«, nannte Hilberts Vorgehen »Theologie«33 (wo Existenzbeweise in der Tat gerne geführt werden), es habe nichts mit Mathematik zu tun. Und Leopold Kronecker schimpfte sowieso über alles, was nicht nach einem Algorithmus konstruiert wurde. Er war der unbarmherzige alte Mann der deutschen Mathematik, dem Strenge und einfaches Konstruieren in endlichen Schritten über alles ging. Nach dem Muster der Schulmathematik sollte ein Beweis geführt werden, so wie man mit Zirkel und Lineal ein gleichseitiges Dreieck in immer der gleichen Weise konstruieren kann. Die Folge der fest vorgegebenen Schritte, nach welchen auch die Schüler mit den einfachsten Möglichkeiten eine Zeichnung oder Rechnung ausführen konnten, nannte man Algorithmus (jede konkrete schrittweise Handlungsanweisung nach dem Muster eines Kochrezeptes kann ein Algorithmus sein, benannt nach dem Mathematiker al-Chwarizmi, der um 800 in Bagdad wirkte). In der konkreten Einfachheit und Sicherheit der Algorithmen lag für viele Mathematiker ihr Charme. Alles, was ein »unpräzises, logisch-philosophisches Fundament« hatte, war eine intellektuelle Spielerei ohne Boden. Die Mathematik hielt Kronecker für eine Naturwissenschaft, die nicht mit Definitionen beginnen konnte,34 sondern nur mit den gottgegebenen natürlichen Zahlen und der Beobachtung der Natur. Definitionen in der Mathematik mussten »nicht bloß in sich widerspruchsfrei sein […], sondern auch der Erfahrung entnommen«.35 Greifbar und anschaulich sollte die Mathematik sein, kein logisches Formelspiel ohne Grund in der Realität. Er konnte nichts mit Existenzbeweisen anfangen, bei denen aus der Annahme der Nichtexistenz ein Widerspruch entstand. Was war ein Beweis wert, der im Dunkeln ließ, wie die Lösung konkret aussah?

      Kroneckers ablehnende Haltung war ein echtes Problem für Hilbert, denn der Beweis, das Herzstück jedes Satzes, ist gerade in der höheren Mathematik abhängig von der Anerkennung durch die Kollegen. Ein Beweis wird praktisch nie vollkommen ausgeführt, mit jedem Zwischenschritt und in jedem Detail. In jeder Argumentationskette wird ein Vorwissen über bereits bewiesene Sätze und ein Konsens über erlaubte Schlusstechniken verlangt. Die höhere Mathematik wird nicht durch eine besondere ästhetische oder metaphysische Qualität zu etwas Höherem, sondern durch ihren freien Umgang mit der niederen Mathematik, deren Ergebnisse sie unkommentiert voraussetzt. Je höher die Mathematik, desto skizzenhafter werden ihre Argumente, damit sie sich nicht über hunderte von Seiten ziehen müssen. Der Beweis wird hier zu einer sehr losen Kette, die ihre Gültigkeit von außen, von der Akzeptanz der anderen Mathematiker erhält.36 So kann es passieren, dass mathematische Ergebnisse und Sätze über längere Zeit akzeptiert und verwendet werden, obwohl sich später herausstellt, dass sie falsch sind. Und umgekehrt kann es vorkommen, dass Beweise, die nur von einem oder wenigen Mathematikern verstanden und akzeptiert werden, sich nicht allgemein durchsetzen.37

      Der Streit wurde in aller Öffentlichkeit ausgetragen, mit einer Reihe von Notizen in den Mathematischen Annalen. Am Ende setzte Hilbert sich durch, aber die Auseinandersetzung hinterließ Narben. Von nun an spürte er den Geist Kroneckers bei jeder mathematischen Arbeit über seine Schulter schauen, und insbesondere in seinen späteren Arbeiten zur Logik versuchte er stets den Bezug zur endlichen Konstruktion herzustellen. Aber immerhin war er nun in Mathematikerkreisen berühmt, sogar noch mehr als seine genialischen Jugendfreunde. Nichts fördert die Bekanntheit mehr als ein öffentlich ausgetragener Streit.

      Als Hurwitz 1892 eine Stelle als ordentlicher Professor in Zürich antrat, wurde es in Königsberg dennoch erst einmal einsam um Hilbert. Ihm blieben zwar einige begabte Studenten (u. a. Arnold Sommerfeld), aber unter den Professoren fehlten nun die Schwergewichte, mit denen er seine Ambitionen verwirklichen konnte. In eben diese Zeit mangelnder mathematischer Ansprache fiel sein Entschluss, Käthe Jerosch zu heiraten, um deren Gunst er sich schon eine Weile bemüht hatte. Er hatte zwar noch keine gute Stellung, aber hervorragende Aussichten, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er an eine bedeutende Universität berufen würde. Ein gutes Jahr später, 1893, kam ein Kind zur Welt, Franz, drei Jahre später folgte der Ruf als ordentlicher Professor nach Göttingen. Dort hatten die Schwergewichte Gauss, Dirichlet und Riemann gelehrt, die der Stadt und ihrer Universität auf dem Feld der Mathematik im 19. Jahrhundert eine in alle Welt ausstrahlende Aura verliehen hatten. In Göttingen bauten sich die Hilberts bald ein schönes Haus und das Leben war nun wohlgeordnet wie die natürlichen Zahlen. Hilbert hatte eine Frau, ein Kind, ein Haus, für die Vollendung des Idylls fehlte nur noch ein Hund. Mitte 30 war er jetzt, im kreativsten Mathematiker-Alter, er hatte Karriere gemacht und war auf dem besten Wege, ein bedeutender Mann zu werden.

      Den Ruf nach Göttingen hatte Hilbert 1895 auf Betreiben von Felix Klein erhalten, der dort seit 1886 Ordinarius für reine Mathematik war. Klein war ein hervorragender, aber vielleicht allzu selbstbewusster Mathematiker, der bereits im Alter von 23 Jahren als Professor berufen worden war und in seiner Antrittsrede die Zunft mit seinem Erlanger Programm verblüfft hatte. Das war nicht nur eine starke Geste, sondern auch tiefgreifende Mathematik. Klein war mit einer Enkelin des Philosophen Hegel verheiratet, was in ihm die Überzeugung befestigt haben mochte, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Jedenfalls war er ein erstklassiger Mathematiker, der jeden Winkel seiner Wissenschaft durchforschen und zu einem einheitlichen Gebäude zusammenfügen wollte.

      Der Fanfarenstoß, mit dem Klein in Erlangen den Beginn seiner Karriere eingeleitet hatte, sollte die Welt auf den Zusammenhang zwischen Geometrie und Gruppentheorie aufmerksam machen, ein damals noch neues Thema. Gruppen haben anschaulich viel mit Symmetrie zu tun. Entdeckt wurden sie von dem bereits erwähnten Évariste Galois, als dieser sich an Permutationen von Lösungen algebraischer Gleichungen abarbeitete. Permutationen sind in gewisser Weise symmetrisch, weil man dabei in einer gegebenen Ordnung ein Element so lange an den Ort des anderen schickt, bis alle wieder einen Platz haben im System (wie beispielsweise beim Mischen von Spielkarten oder bei Anagrammen). Portraits von Dürer oder Leonardo da Vinci sind in ihrer Anlage meist symmetrisch, in Form von Spiegelungen der einen Gesichtshälfte auf die andere (Achsensymmetrie). Spielkarten sind symmetrisch in dem Sinn, dass sie sich um 180° drehen lassen und wieder dasselbe Bild ergeben (Rotationssymmetrie). Ebenso verhält es sich mit einem fünfzackigen Stern, einem Drudenfuß, den man um ein Fünftel oder zwei Fünftel oder gerne auch fünf Fünftel dreht und der anschließend wieder genauso aussieht wie vorher. Solcherart symmetrische Transformationen bilden eine Gruppe.38

      Diese Gruppen also brachte Klein in seinem jugendlichen Überschwang mit der Geometrie zusammen, indem er behauptete, dass eine Geometrie von nichts anderem bestimmt werde als von ihrer dazugehörigen Transformationsgruppe. Auf eine solche Idee konnte er nur kommen, weil im 19. Jahrhundert die Auffassung ins Wanken geriet, was eine Geometrie im Kern eigentlich war. 2000 Jahre lang hatte als ausgemacht gegolten, dass Euklids Darstellung der Geometrie, wie sie bis heute in den Schulen unterrichtet wird, die einzig richtige sei. Falsch!, so stellte es sich in den Jahren nach der Französischen Revolution heraus.

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