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Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt. Georg von Wallwitz
Читать онлайн.Название Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt
Год выпуска 0
isbn 9783946334286
Автор произведения Georg von Wallwitz
Жанр Математика
Издательство Bookwire
Hurwitz, nur wenig älter als die beiden Studenten, hatte störrisch nach oben gesträubte Haare, von der Art und Länge einer Schuhbürste, und einen etwas grimmig nach unten gezogenen Oberlippenbart im Walross-Stil, wie man ihn heute nur noch von Nietzsche-Fotografien kennt. Er machte insgesamt keinen gesunden Eindruck, seit er als Student an der TU München an Typhus erkrankt war. Er litt oft an Migräne, wirkte schmal, feingliedrig und zerbrechlich, hatte dabei aber lebhafte und fröhliche Augen. Seine Erscheinung war unauffällig und »nichts hätte Hurwitz ferner gelegen, als bohemehaft oder exzentrisch zu erscheinen. Er war immer korrekt, reserviert, unauffällig, über die Maßen bescheiden, er zog den Hut noch vor der Dienerschaft der Nachbarn. Ein Fremder hätte nicht vermuten können, dass sich hinter dieser unscheinbaren Fassade etwas anderes als ehrenwerte Bürgerlichkeit verbarg.«9 Und nur wer etwas Sinn für Mathematik hatte, konnte in dieser etwas kränklichen und zarten Erscheinung den ihr vorauseilenden Ruf bestätigt finden, ein Wunderkind zu sein. Höchst musikalisch war er übrigens auch.
Der jüngste der drei Spaziergänger, Hermann Minkowski, war noch mehr Wunderkind als Hurwitz. Seine maßlose Begabung ließ ihn mit 15 sein Abitur machen und bereits mit 17 Jahren seinen ersten großen internationalen Auftritt absolvieren, als er 1881 die Preisaufgabe der Pariser Akademie im Wettbewerb um den Grand Prix des Sciences Mathématiques löste (es ging um die Darstellung einer ganzen Zahl als Summe von fünf Quadrat(zahl)en). Amüsant ist diese Episode, weil das Problem bereits 14 Jahre früher von Henry Smith, einem durchschnittlich begabten Professor in Oxford, gelöst worden war, ohne dass man in Paris davon Kenntnis nehmen wollte. (Dass dieses Ergebnis aus Oxford der Pariser Akademie durchrutschte, war nichts Ungewöhnliches, denn die Wissenschaftler dieser Epoche vermieden es, die Publikationen des jeweils anderen Landes ohne Not zur Kenntnis zu nehmen.) Bedeutend wird sie durch das Schlaglicht, welches sie auf den jungen Minkowski warf. Er löste die Aufgabe in einer Brillanz, dass die Akademie ihm gerne den Preis zuerkannte, obwohl national gesinnte Franzosen und Engländer jeweils eigene Einwände formulierten. Aber Charles Hermite und Camille Jordan, die zu dieser Zeit bestimmenden Köpfe ihres Fachs in Paris, wussten den biederen Zugriff Smiths von dem Genialen bei Minkowski wohl zu unterscheiden und hielten an ihrem Urteil fest. Jordan erkannte das Talent in dem jugendlichen Autor wie ein Künstler die Skulptur im Marmorblock und schrieb ihm: »Travaillez, je vous prie, à devenir un géomètre éminent.«10 Die Bitte ging in Erfüllung.
Die Familie Minkowski war erst wenige Jahre zuvor aus Alexoten (das heute zu Kaunas in Litauen gehört) eingewandert. Sie hatte sich unter der Herrschaft des Zaren nicht mehr wohl gefühlt, seit die Polnisch-Litauischen Gebiete nach dem Aufstand von 1862 unterdrückt, geknebelt und besteuert wurden. Die besseren schulischen Perspektiven und die Größe der polnischen Gemeinde im nahegelegenen Königsberg trugen wohl ein Übriges zur Umsiedlung bei.11 Der älteste Bruder, Maxim, war bereits zuvor nach Insterburg, nahe Königsberg, aufs Gymnasium gegangen.
Hermann Minkowski wird als ein – trotz seiner offensichtlich außerordentlichen Begabung – sehr bescheidener, schüchterner, zum Stottern neigender Mensch beschrieben, als wäre ihm sein Talent unangenehm gewesen. Was fängt man als Junge mit so einem gewaltigen Verstand an, der die Schuljahre zu Monaten eindampft und zum Kinderspiel werden lässt, was den anderen die Krönung jahrelanger müheseliger Arbeit ist? Man muss wohl Bücher über Mathematik und Naturwissenschaften lesen und zur Erholung Shakespeares Othello und Goethes Faust aufführen. Sein Humor, der in seinen späteren Briefen immer wieder aufblitzte, war von der Art, wie man ihn in einer zurückhaltenden Beobachterrolle kultiviert, die Minkowski in Gesellschaft, halb gesucht, halb gezwungen, einnahm. Jedenfalls bedauerte er es später, in seiner Jugend für Übermut und Sorglosigkeit nie Zeit gefunden zu haben.
»Kein Mathematiker sollte je vergessen, dass die Mathematik, mehr als jede andere Wissenschaft, ein Spiel für junge Leute ist.« Sie ist kein Ort, an dem alte Menschen noch etwas bewegen können, und »ich weiß von keinem bedeutenden mathematischen Fortschritt, der von einem Mann über 50 begonnen worden wäre«,12 schreibt G. H. Hardy, der exzentrischste unter den hervorragenden Mathematikern des 20. Jahrhunderts. Junge Menschen sind noch nicht von den Gewissheiten des Alters verbaut, sind noch nicht erfahrungssatt und eitel, haben keine Verpflichtungen gegenüber Methoden und Schulen, können sich in aller Freiheit irren und auf wenig respektable Abwege begeben. Sie sind naiv genug, um auch das furchtbar Einfache zu probieren, welches manchmal die Lösung ist, wenn die Komplexität einer Aufgabe den Kopf zu sprengen droht. Sie sind mit den Techniken, mit denen ihre Lehrer groß geworden sind, nicht so verwoben wie diese und können unbekümmert etwas Neues probieren. »Es trägt jeder mathematische Soldat den Marschallstab im Tornister, wenn er nicht aus purer Disziplin auf alles Vorhandene schwört«,13 bemerkte Minkowski später. Anders als die historischen Wissenschaften, in denen sich meist eine Gelehrsamkeit erdrückend auf die andere legt, ist die Mathematik durch ihren Fortschritt nicht weniger zugänglich geworden. »Obwohl die Mathematik ja heute einen so gewaltigen und ausgedehnten Bau vorstellt, werden die Zugänge immer offener, die Räume immer heller und durchsichtiger, und dringt man, wenn man nur den richtigen Schlüssel zur Pforte sich geschmiedet hat, alsobald in das tiefste Innerste.«14 Bei diesen Worten hatte Minkowski wohl nicht zuletzt an seine eigenen jugendlichen Heldentaten gedacht.
So gesehen war David Hilbert, der zweite Doktorand, um den sich Hurwitz spazierengehend kümmerte, kein vielversprechendes Talent. Von ihm gab es aus der Schule keinerlei Wunderdinge zu berichten, allenfalls über Probleme mit den alten Sprachen und gute Noten in Rechnen. Das Gymnasium durchlief er ohne besondere Höhen und Tiefen, ohne Enthusiasmus für irgendein Fach, sodass er sich später zu der Entschuldigung genötigt sah, »Ich habe mich auf der Schule nicht besonders mit Mathematik beschäftigt, denn ich wusste ja, dass ich das später tun würde.«15 Er war, wie man es damals in Ostpreußen lautmalerisch auf den Punkt brachte, »dammelig«.16 Nun war er 22 (zweieinhalb Jahre älter als Minkowski, der allerdings ein halbes Jahr vor ihm die Abiturprüfung abgelegt hatte) und hatte dennoch schon das Aussehen eines Bilanzbuchhalters, mit schütterem Haar, Tendenz zum Segelohr, einem Zwicker auf der Nase und spitzem Kinn.
Die Familie Hilbert verkörperte den von Kant formulierten steifen, pünktlichen, ehrlichen und dennoch spekulationsfreudigen protestantischen Geist, der damals in Königsberg seinen letzten Abglanz verbreitete. Es war ein wohlgeordnetes Leben, die Woche gehörte der Arbeit, der Sonntag der Kirche und die Sommerfrische verbrachte man an der nahen Ostsee. Der Urgroßvater war ein wanderlustiger Bursche, der sich vom Barbier in Freiberg in Sachsen zum Feldscher im Siebenjährigen Krieg und schließlich zum »Stadtchirurgus, Operateur und Accoucheur«17 in Königsberg emporarbeitete. Die Söhne der Familie hießen gerne David, das war das äußere Zeichen eines innerlich verblassenden pietistischen Erbes. Ihre Frauen waren Töchter von Schulmeistern, die mehr Erziehung als Bildung mitbrachten und ihren Kindern mehr Pflichtbewusstsein als Kultur mitgaben, um mitzuschwimmen in einer Gesellschaft, deren stetig wachsende Mittelschicht den Zweifel den Philosophen überließ und den Traum von einer besseren Welt den Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten. Der Vater des mit Hurwitz und Minkowski spazierengehenden Hilbert war wie schon dessen Vater Amtsrichter, gutbürgerlich, streng, »ein etwas einseitiger Jurist, von so regelmäßigen Gewohnheiten, dass er täglich den gleichen Spaziergang machte, verwachsen mit Königsberg«.18 Die Mutter war eine respektable Amtsrichtersfrau aus einer Kaufmannsfamilie, die sich in stillen Stunden wohl auch mit Astronomie und dem Ausrechnen von Primzahlen beschäftigte. Sonst gab es über sie nichts