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so wohlgeordnet, so herzhaft grau, dass es einem Wunder gleichkam, dass der jüngste David Hilbert nicht dem Wunsch des Vaters nachkam und ebenfalls preußischer Staatsdiener wurde.

      Dies war die Konstellation, die zum Nährboden für einige der besten Ideen des 20. Jahrhunderts wurde. Der wenig bemerkenswerte Hilbert und der früh großartige Minkowski wurden von Hurwitz unter die Fittiche genommen und durch das weite Feld der Mathematik geführt. Und die beiden Wunderkinder erkannten in Hilbert nicht nur einen dammeligen Jungen, sondern eine tiefe, langsam reifende Begabung. »Der Umstand, dass ich es in der Mathematik zu etwas gebracht habe,« meinte Hilbert später, »ist dem Umstand geschuldet, dass ich sie immer so schwierig fand. Wenn ich etwas las oder über etwas hörte, schien es mir immer so schwierig und praktisch unmöglich zu verstehen. Und dann fragte ich mich, ob es nicht auch einfacher ginge – und häufig stellte es sich tatsächlich als einfacher heraus!«19 Hurwitz und Minkowski erkannten Hilberts Tiefe in seiner Langsamkeit und die Originalität in seiner naiven Herangehensweise. Tatsächlich war er, wie sich bald herausstellte, mit ausreichend Talent gesegnet, um auf den Spaziergängen um fünf Uhr zum Apfelbaum mithalten zu können.

      »Manche Mathematiker sind Vögel, andere sind Frösche. Vögel fliegen hoch in der Luft und überschauen weite Teile der Mathematik bis weit hinaus zum Horizont. Sie haben Spaß an Begriffen, die unserem Denken eine Einheit geben und verschiedene Probleme aus unterschiedlichen Gegenden der Landschaft zusammenbringen. Frösche leben im Schlamm und sehen nur die Blumen, die in der Nähe blühen. Sie freuen sich an den Details bestimmter Objekte und haben immer nur ein Problem vor Augen«,20 so teilt Freeman Dyson, ein bekennender Frosch, seine Zunft ein. Legt man diese Charakterisierung zu Grunde, war Hurwitz ein Frosch und Minkowski und Hilbert waren Vögel. Hurwitz war nicht in erster Linie ein Mann für die ganz neuen, revolutionären Ideen, aber er ging den Dingen so lange auf den Grund, bis er sie von allem Beiwerk, allen dunklen Referenzen befreit hatte und zu ihrem schönen Kern vorgedrungen war. Er konnte ganze Felder so verdichten und Lösungen so weit vereinfachen, bis nur noch die Essenz, ein Aphorismus übrigblieb: »Ein Aphorismus ist ein prägnanter, gewichtiger Ausspruch. Der Aphorismus ist kurz, aber sein Urheber mag lange daran gearbeitet haben, um ihn so kurz zu machen. Hurwitz pflegte seine Ideen mit liebevoller Sorgfalt, bis er zum einfachsten möglichen Ausdruck gelangte, frei von überflüssiger Dekoration oder Ballast und vollkommen klar […] Er beherrschte die ganze Breite des mathematischen Wissens seiner Zeit, soweit dies möglich war zu Beginn des 20. Jahrhunderts.«21

      Er war ein idealer Lehrer für die beiden Vögel, die er Thema für Thema und Problem für Problem ganz auf die Höhe ihrer Zeit brachte. Von dort aus konnten Hilbert und Minkowski dann, alles überblickend, Geometrie und Physik, Algebra und Zahlentheorie und was ihnen sonst noch in den Sinn kam, im Kopf zusammenbringen.

      Acht Jahre dauerte das Ritual des Spaziergangs, mit gewissen berufsbedingten Unterbrechungen und Absenzen. Aber wann immer sich die Möglichkeit bot, gingen die drei den Schlossteich entlang zur Stadt hinaus und durchleuchteten dabei »wohl alle Winkel mathematischen Wissens«.22

       Die, denen es an Geist fehlt, an Vorstellungskraft, an Eindringlichkeit und Tiefe, brauchen Emotionen, Leidenschaften, Erhabenes und Katastrophen. Von der Scheingröße der Phänomene, ihrer Intensität lassen sie sich packen und messen ihnen Bedeutung bei in Funktion der Intensität.

      Es gibt eine Sucht nach Heftigkeit, nach Gram und Jammer, nach Gemütsaufwallung und sogar nach Wirrsal.

      Und doch ist diese Unordnung unendlich weniger reich, weniger bedeutsam, weniger groß als die Phänomene, die unsere Klarheit erhalten und uns instand setzen, den Schein vom Sein zu unterscheiden und die Ordnungsbereiche in uns selbst gesondert zu wahren.

      Paul Valéry, Cahiers23

      4. Ein geschärfter Geist

      Der Siegeszug der wissenschaftlichen Methoden war auch im Königsberger Alltagsleben unübersehbar. Mediziner, Botaniker, Physiker und Chemiker hatten im 19. Jahrhundert weithin sichtbar an Ansehen gewonnen, etwa im selben Maß, wie das der Theologen gesunken war. Die wirtschaftlichen und politischen Revolutionen um 1800 hatten den Glauben an ein statisches Weltbild erschüttert und die Wissenschaft war das Vehikel, mit dem die Zukunft erschlossen werden sollte. Sie war der »Erzengel des Fortschritts«, durch den die Welt immer besser und lebenswerter zu werden versprach, und ihr hatten sich die drei Spaziergänger verschrieben. Auch sie waren »ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur ›besten aller Welten‹ zu sein. Mit Verachtung blickte man auf die früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Revolten […]. Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde, und dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen ›Fortschritt‹ hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; […] und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der Technik.«24

      Held des technikverliebten Bildungsbürgertums war Goethes Faust, der für sein hemmungsloses Wissenwollen am Ende nicht einmal büßen musste. Minkowski konnte lange Passagen auswendig.

      Die Technik, die den Fortschritt trug, brauchte die Physik, die wiederum von der Entwicklung der Mathematik abhängig war. Nichts anderes als ein Reigen von Anwendungen dessen, was die Mathematik sich in den vergangenen 200 Jahren erarbeitet hatte, war die ganze Industrielle Revolution: »Dieses ganze Dasein, das um uns läuft, rennt, steht, ist nicht nur für seine Einsehbarkeit von der Mathematik abhängig, sondern ist effektiv durch sie entstanden, ruht in seiner so und so bestimmten Existenz auf ihr. Denn die Pioniere der Mathematik hatten sich von gewissen Grundlagen brauchbare Vorstellungen gemacht, aus denen sich Schlüsse, Rechnungsarten, Resultate ergaben, deren bemächtigten sich die Physiker, um neue Ergebnisse zu erhalten, und endlich kamen die Techniker, nahmen oft bloß die Resultate, setzten neue Rechnungen darauf und es entstanden die Maschinen.«25

      Die Mathematiker konnten sich guten Gewissens als Teil der gewaltigen Entwicklung sehen, welche die Welt vor ihren Augen zum Besseren verwandelte. Auf die Jüngeren machte all dies den größten Eindruck, und bei Hilbert noch mehr als bei Hurwitz und Minkowski vermengte sich der Glaube an den Fortschritt mit dem Willen, den theoretischen Vorsätzen später auch Taten folgen zu lassen.

      Dem unbeschwerten Geist des Fortschritts stand in der Mathematik allerdings ein anderer, strengerer Geist entgegen, der eine Reaktion war auf den lässigen Umgang der Barockzeit mit dieser exaktesten aller Wissenschaften. Die Mathematik war im 17. und 18. Jahrhundert häufiger im Ungefähren verblieben, als es ihr guttat. Sie war und blieb lange eine Hilfswissenschaft der Geographen, Astronomen und Bankiers, die kein Interesse hatten an dem, was wir heute »reine« Mathematik nennen. Sie wurde danach beurteilt, ob sie brauchbar war, geschmeidig im Umgang. Die Mathematiker schmückten sich in dieser Zeit lieber mit Anwendungen und Resultaten als mit der Erklärung der dahinterstehenden Techniken und Überlegungen.

      Strenge Begründungen waren nicht wichtig, solange Mathematik und Physik noch eng zusammenhingen und sich die Richtigkeit von Rechnungen in der Natur, der größten Rechen- und Beweismaschine von allen, verifizieren ließ. Wenn eine vorhergesagte Wahrscheinlichkeit am Spieltisch keinen Erfolg brachte, wenn die Berechnung einer Umlaufbahn nicht mit der Beobachtung übereinstimmte, wenn eine Schwingung sich anders ausbreitete als vom Modell vorhergesagt, dann musste, wenn es sich nicht um einen bloßen Rechenfehler handelte, die Mathematik an die Realität angepasst werden und nicht umgekehrt. Sie diente als ein Handwerkszeug, das immer weiter verbessert wurde, wie ein Mechanismus, der immer effizienter lief.

      Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stiegen die Ansprüche spürbar und das fröhliche Ausschreiten nach vorn hatte ein Ende. Nun wurden konkrete Definitionen verlangt für all die Begriffe, die in den vergangenen 150 Jahren gewissermaßen noch für bare Münze gegolten hatten. Ein Geist allgemeiner Nüchternheit begann sich auszubreiten und der Typ des praxisorientierten Machers wich dem Professor und Denker von Beruf. Strenge war nicht mehr ein Hindernis bei der Erreichung neuer (meist physikalischer) Ergebnisse, sondern das Ziel. Konnte man

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