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ist ein Resultat von Cantors Aufschreibtechnik, an der es nichts zu deuteln gibt. Die rationalen Zahlen sind also gleichermaßen abzählbar unendlich wie die natürlichen. Cantor zeigte nun, dass es sich mit den reellen Zahlen (die, grob gesprochen, neben den rationalen Zahlen auch solche enthalten, die sich nicht als Bruch schreiben lassen, also etwa die Kreiszahl – also alles, was sich irgendwie als Kommazahl ausdrücken lässt) anders verhält. Ihre Unendlichkeit hat eine andere Kragenweite – oder wie es richtig heißt: Sie ist von anderer Mächtigkeit (ihre Elemente lassen sich nicht in eine eineindeutige Beziehung bringen).27

      Es lohnt sich an dieser Stelle den ebenso einfachen wie genialen Gedankengang Cantors nachzuskizzieren. Der Beweis beruht auf dem so genannten Diagonalverfahren. Dazu nimmt man an, die Unendlichkeit der reellen Zahlen sei von gleicher Mächtigkeit wie die der natürlichen (oder rationalen) Zahlen. Wenn das so ist, dann müssen sich die reellen Zahlen in einer durchnummerierbaren Liste aufschreiben lassen. Beispielsweise müssten sich alle reellen Zahlen zwischen 0 und 1 in willkürlicher Reihenfolge etwa so aufschreiben lassen:

      0,50000000…

      0,33333333…

      0,25000000…

      0,66666666…

      0,20000000…

      0,16666666…

      0,40404000…

      0,75000000

      Man betrachte nun die fett markierte Diagonalzahl: 0,53060600… und ändere sie an jeder Stelle, etwa indem man 1 hinzuzählt. Dann erhält man eine Zahl 0,64171711…, die gewiss nicht in dieser Liste ist, denn sie unterscheidet sich von jeder in der Liste enthaltenen Zahl an mindestens einer Stelle. Die Annahme, die reellen Zahlen ließen sich in einer abzählbaren Liste aufschreiben, führt zu einem Widerspruch, denn aus dieser Liste lässt sich eine Zahl konstruieren, die nicht in ihr enthalten ist. Also können sich die reellen Zahlen nicht in eine Liste bringen und abzählen lassen. Die reellen Zahlen haben damit eine andere Mächtigkeit als die natürlichen Zahlen. Sie sind überabzählbar unendlich.

      Der Spaß fängt an, ernsthaft kompliziert zu werden, wenn man sich überlegt, ob es eine Menge gibt, deren Mächtigkeit zwischen der abzählbaren und der überabzählbaren liegt. Cantor vermutete, dass dies nicht der Fall war, aber er konnte es nicht beweisen, und so reichte er diese Vermutung als die »Kontinuumshypothese« an die kommenden Generationen weiter. Eine andere, ebenso schräge Frage war, wie die Menge aller unendlichen Mengen aussehen mag, in welcher also Mengen von allen Arten von Unendlichkeit vereint sind? Oder was war die Mächtigkeit einer Menge, die aus den Teilmengen einer unendlichen Menge bestand?

      Das Establishment in Berlin, repräsentiert durch Kronecker, hielt allein schon den Gedanken, im Unendlichen nach Strukturen zu suchen, mit denen sich am Ende vielleicht sogar rechnen ließ, für surreal.28 Wohin sollte ein so lockerer Umgang mit dem Unendlichen führen? Hatte man nicht eben viel Mühe darauf verwandt, die Mathematik in den endlichen Bereich zu zwingen und das unordentliche Erbe der Differenzialrechnung aufzuräumen?

      Der Umgang mit dem Unendlichen war immer unheimlich geblieben, auch wenn die Methoden und Definitionen immer besser und genauer wurden. Das Unendliche zu denken bedeutet, etwas in den Kopf zu bekommen, wofür es kein Bild, keine Vorstellung gibt. Das Unendliche existiert nicht in der Natur. Im Kleinsten besteht sie aus Quanten und auch im Größten lässt sich nicht ohne weiteres behaupten, unser Universum sei in Zeit und Raum unendlich ausgedehnt. Es kommt in unserer Erfahrung nicht vor, es ist nicht real, sondern reine Abstraktion. Die Endlosigkeit dennoch erfassen und durchdenken zu wollen bedeutet immer, im wörtlichen Sinne, an die Grenzen des Verstandes zu gehen. Wer es sich trotz allem zutraut, findet sich sehr schnell sehr allein.

      Für seinen Mut, über die Grenzen des Endlichen zu gehen (und das Establishment zu verachten), bewunderte die mathematische Jugend und speziell das Trio vom Königsberger Schlossteich Cantor grenzenlos. Sie »verehrte in Cantor den originellsten zeitgenössischen Mathematiker zu einer Zeit, als in damals maßgebenden mathematischen Kreisen der Name Cantor geradezu verpönt war und man in Cantors transfiniten Zahlen lediglich schädliche Hirngespinste erblickte.«29 Cantor war aber nicht zum Helden geboren und für eine solche Auseinandersetzung mit Kronecker zu sensibel (wie es vielleicht bei einem Kopf, der das Unendliche umfassen konnte, nicht verwunderlich war) und endete, halb verhungert, 1918 in einem Sanatorium.

      Hierauf beruht mithin diese ganze Kunst zu überzeugen. Sie ist in zwei Grundsätzen enthalten: alle Beziehungen, die man verwendet, zu definieren; und alles zu beweisen, indem man im Geist die definierten Ausdrücke durch die Definitionen ersetzt.

      Pascal, Esprit géométrique

      5. Hilbert geht nach Göttingen

      Die Karrieren der drei Spaziergänger nahmen ihren normalen Lauf. Hermann Minkowski trat 1887 eine Lehrstelle an der Universität Bonn an und die gemeinsamen Ausflüge zum Apfelbaum fanden nur noch in seinen Ferien statt. In Preußens äußerstem Westen entwickelte er eine heimliche Leidenschaft für die Physik, seit er zunächst aus Langeweile (mathematisch war in Bonn nicht viel geboten) und später mit immer größerem Interesse bei Heinrich Hertz Vorlesungen hörte und sogar Experimente machte. An Hilbert berichtete er eher beiläufig davon. Er sei gelegentlich sogar im blauen Laborkittel anzutreffen, nannte sich einen »Praktikus, wie Sie ihn sich schändlicher gar nicht vorstellen können«,30 und schlug vor, sich vor seinen Besuchen im reinvernünftigen Königsberg mindestens zehn Tage von aller Praxis zu entgiften, um so wieder Anschluss zu finden an die dortige Gedankenwelt. Bei Hertz hatte er dessen Unbehagen an Maxwells Elektrodynamik und Newtons Mechanik mitbekommen, ebenso wie eine Begeisterung für die Gleichungen der Physik. Aus dieser Zeit hatte er sich ein Verständnis für experimentelles Vorgehen auch in der Mathematik bewahrt und betonte auch später immer wieder seine Erwartung, eines Tages werde die Zahlentheorie in der Physik Anwendungen finden.31

      In Königsberg wurde Hilbert, der den eigentlich üblichen einjährigen Wehrdienst irgendwie vermieden hatte, 1886 mit 24 Jahren Privatdozent. Er verhielt sich aber nach wie vor eher wie ein Student als wie eine akademische Respektsperson, denn er hatte irgendwann, als die mathematischen Spaziergänge weniger wurden, wohl doch den Reiz der Tanzcafés am Königsberger Schlossteich entdeckt. Er tanzte gern und legte sich dabei nur selten auf eine bestimmte Partnerin fest, wie es damals die Sitte verlangt hätte. Er stellte fest, dass er bei den jungen Frauen recht gut ankam, und entwickelte daraus eine Überzeugung, die er bis ins hohe Alter beibehielt.

      Zur Ausbildung eines Jung-Akademikers gehörten auch Reisen an die Hotspots des Faches. Also machte er sich 1885/86 zu den Größen des Fachs auf, nach Leipzig, wo zu dieser Zeit Felix Klein eine größere Gruppe von vielversprechenden oder bereits arrivierten Köpfen um sich versammelt hatte. Hilbert machte dort offensichtlich Eindruck und wurde weitergereicht nach Paris, wo der geniale Henri Poincaré lehrte. Viel gab es nicht zu berichten über das Treffen mit dem schüchternen und oft nervösen Franzosen (der einige Jahre unter preußischer Besatzung gelebt hatte und daher gut Deutsch sprach). Hilbert musste das nicht persönlich nehmen, denn Poincaré hatte zeitlebens nur wenige Schüler. Charles Hermite, der Minkowskis jugendliche Glanztat vor der Akademie verteidigt hatte, war hingegen sehr viel offener und freundlicher. Aber er war alt und allzu viel Neues war ihm in letzter Zeit nicht mehr eingefallen. Hilbert sammelte immerhin Eindrücke und Anregungen, schnupperte in den verschiedensten Ecken seines Fachs und konnte nach einem knappen Jahr zufrieden nach Königsberg zurückkehren.

      Zu seinem Herzensthema in dieser Zeit entwickelte sich die Invariantentheorie. Invarianten tauchen an den verschiedensten Stellen auf in der Mathematik, etwa in der Projektiven Geometrie, ein Fach, das von den Malern der Renaissance angestoßen worden war. Diese wollten Bilder von dreidimensionalen Figuren auf gekrümmte Flächen projizieren, in die sie eigentlich nicht gehörten. Malt man eine menschliche Figur in die Kuppel einer Kirche, wie müssen dann die Proportionen im Gemälde sein, damit es aus der Perspektive des Gläubigen in der Kirchenbank einigermaßen

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