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KHAOS. Lin Rina
Читать онлайн.Название KHAOS
Год выпуска 0
isbn 9783959914208
Автор произведения Lin Rina
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Dann lief ich zu den anderen eisigen Kisten. Zielstrebig hielt ich auf die eine zu. Die einzige Kryokapsel, die für mich wirklich von Belang war. Fast bedächtig strich ich mit den Fingern über das Glas und betrachtete noch einmal den schlafenden Mann darin.
Gleich würde ich ihn zurückholen und spürte neben der Nervosität auch eine Spur von Angst in mir. Was war er wohl für ein Mann? Und war ich wirklich mutig genug, das herausfinden zu wollen?
Doch mein Hochgefühl trieb mich weiter an, ließ sogar das Ziehen in meinen Schultern unwichtig erscheinen, das ich jedes Mal spürte, wenn ich an den unhandlichen Griffen des Trolleys zog.
Ich war bereit, mich einem weiteren Risiko zu stellen, und atmete tief durch, ehe ich mich an dem Sicherheitsverschluss zu schaffen machte. Diesmal überwand ich ihn schneller als beim ersten Mal und das Zischen des Deckels ließ mich die Luft anhalten.
Denn nun lag er vor mir. Tiefgefroren und doch unglaublich erhaben. Die Muskeln an seinen Armen zeichneten sich perfekt durch das hautenge schwarze Oberteil ab und auch der Rest schien gut definiert zu sein. Obwohl seine Gestalt, im Gegensatz zu dem blonden Hünen auf meiner Liege, eher schmal war, wirkte er nicht schwach, sondern gefährlich wie ein Raubtier. Er hatte auch nichts von der Grobschlächtigkeit der Männer, die hier mit mir ihr Leben fristeten. Seine Beine steckten in einer einfachen schwarzen Hose. Seine Füße ebenfalls in schweren Kampfstiefeln.
Und dann sein Gesicht; kalkweiß wie das Eis selbst und so nah, dass ich es hätte berühren können. Die Versuchung war groß, die Finger nach ihm auszustrecken, so frech zu sein, ihn anzufassen.
Doch ich erinnerte mich selbst daran, dass ich nicht alle Zeit der Welt hatte. Schnell nahm ich den Trolley und bugsierte den gefrorenen Körper in das Gerät. Diesmal fiel es mir schon sehr viel leichter, den Knopf zu drücken, und ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Seele vor mir.
Mit Mühe musste ich mich regelrecht zurückhalten, nicht sofort tiefer in die schimmernden Funken einzudringen, deren leichte Bewegungen auf mich so anziehend wirkten. Doch ich durfte auf keinen Fall den Zeitpunkt verpassen, an dem es kritisch wurde.
Fast ein wenig zu früh drückte ich den Knopf erneut und die Klappe hob sich.
Wieder schnappte ich mir zuerst das Thermometer, ließ mir selbst keine Zeit, um wieder mit meinen Gedanken abzuschweifen.
33,2° C stand auf der Anzeige und ich fluchte innerlich. Das war fast noch zu kalt. Doch das Herz würde ich auch so in Gang bekommen. Der Gurt war schnell über die Brust gelegt und tat seine Arbeit, während ich auf die andere Seite des Raumes lief und die Rotlichtkammer einschaltete.
Ich musste mich ranhalten, die Aufregung machte mich ganz kribbelig. Eigentlich zu kribbelig für meinen Körper. Aber ich würde mich erst um mich selbst kümmern, wenn ich hier alles unter Kontrolle gebracht hatte.
Als der Gurt ein Signal gab, kam ich zurück und sah, wie der erste Atemzug seinen Brustkorb hob. Er lebte. Mein Herz schlug so schnell, dass es mir einen gefährlichen Stich versetzte.
Andächtig berührte ich seinen Arm, die Haut, die sich zwar kühl, aber lebendig anfühlte, und stach viel vorsichtiger als bei dem anderen Mann die Nadel in die Haut. Der Schlauch wurde angesteckt und ich fixierte den Zugang mit einem Pflaster, dessen Ränder ich gründlicher feststrich, als nötig gewesen wäre.
Ich konnte es kaum erklären, aber ich verspürte in mir den Drang, diesen Mann zu berühren. Auch wenn es nur sein Arm war, begann mein Bauch zu kribbeln und ich bekam schwitzige Hände.
Behände hob ich ihn mit dem Trolley aus dem Sterilisator und schob ihn rüber in die Rotlichtkammer, um die fehlende Temperatur auszugleichen.
Seine Seele war aus der Reglosigkeit in einen tiefen Traum aufgestiegen und ich beobachtete eine Weile die wellenförmigen Bewegungen, die typisch für die Tiefschlafphase und andere komatöse Zustände waren.
Doch seine Seele war stark und pulsierte im Schlag seines Herzens. Ich sah sie mir gerne an und das konnte ich von nicht vielen Seelen behaupten. Liebe und Hass tanzten in jeder einzelnen Faser umeinander und füllten seine Seele mit Leben und wundersamen Gefühlsmustern.
Auch wenn er schlief, konnte ich diese beiden Gefühle schon besser einschätzen als noch vor ein paar Minuten. Die Liebe war eine feste, beständige Liebe, die ich gut einordnen konnte. Ich hatte sie bei meiner Mutter gesehen und sie bedeutete eine starke familiäre Bindung.
Der Hass wiederum war ein wenig schwieriger. Hass konnte so vieles sein. Doch es war weder ein Hass aus Unzufriedenheit heraus noch einer, der aus Liebe entstanden war.
Die Anzeige piepste und ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Das Gerät hatte den Körper auf 37°C erhitzt und ich schaltete es ab.
Mühsam beförderte ich den Mann auf meine zweite Behandlungsliege und setzte mich erst einmal erschöpft hin.
Es war unvorstellbar, dass ich wirklich zwei Personen aus dem Kryoschlaf geholt hatte, obwohl es mir vor ein paar Stunden noch völlig unmöglich erschienen war. Die Seelen der beiden Männer zeigten mir, dass ich alles richtig gemacht hatte und keiner zu Schaden gekommen war. Jetzt blieb mir nur noch das Warten.
Ächzend erhob ich mich wieder und zog meinen Eimer näher zu dem Mann, der mich schon von Anfang an fasziniert hatte. Ich ließ mich nieder, stützte meine Unterarme an der Seite der Liege ab und betrachtete ihn zum wiederholten Male.
Mein Puls ging immer noch viel zu schnell und ich hob schüchtern die Hand, um ihm eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn zu schieben. Meine Finger strichen leicht über seine Haut, zeichneten vorsichtig seine Nase nach, doch als ich seine Lippen berühren wollte, verließ mich schlussendlich der Mut. Mein Magen flirrte, meine Hände zitterten und meine seltsamen Gedanken waren mir selbst fremd. Noch nie hatte ich dergleichen empfunden und ich konnte mich auch nicht sonderlich gut mit dem Gedanken anfreunden, dass ein schlafender Mann solche Empfindungen in mir hervorrufen konnte.
Es war einfach kindisch. Ich kannte ihn doch gar nicht. Weder wusste ich seinen Namen noch wie seine Stimme klang oder womit sich seine Gedanken beschäftigten. Sein Charakter war mir weitestgehend unbekannt, wie auch seine moralischen Standpunkte. Und doch schlug mir das Herz bis zum Hals.
Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen, trotzdem fehlte mir der Appetit. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu ihm zurück, mein zusätzlicher Sinn richtete sich ständig auf seine Seele und ich wurde nicht müde, sein Gesicht anzusehen.
Mein Leben lang hatte ich Männer gefürchtet, mich vor ihnen versteckt und so viel Abstand wie möglich zu ihnen gehalten.
Was war nur mit mir geschehen, dass ich anfangen musste, an meinem Verstand zu zweifeln?
7
Erwachen
Ich erwachte von dem leisen Fiepen, das der Beutel mit der Kochsalzlösung von sich gab, als er beinahe geleert war. Schwer hob ich den Kopf und blinzelte ins weiße Licht der Deckenbeleuchtung. Mein Nacken knackte und ich wischte mir eine Sabberspur von der Wange. Stöhnend richtete ich meinen Rücken auf und schnappte nach Luft, als ein scharfer Schmerz in meine Brustwirbel fuhr.
Ich war doch tatsächlich mit dem Kopf auf der Liege eingeschlafen. Mein Mund war wie ausgedörrt und mein Hals schmerzte. Langsam erhob ich mich, ging mit kleinen Schritten zum Waschbecken und spritzte mir erst einmal lauwarmes Wasser ins Gesicht.
Kaltes gab es hier kaum. Die Hitze der Wüste hielt die Rohre warm verpackt und leitete die Wärme ins Wasser.
Ich trank ein paar Schluck direkt aus der Leitung und ging dann zu meinem Loch, um mich abzutrocknen und mir meine tägliche Tablettendosis einzuverleiben.