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einen Vorschlag: Willst du Hans sehen?“

      „Da müssten wir erst einmal wissen, wo er steckt.“

      Veronika nickte. „Stimmt. Dann werden wir uns bemühen, ihn zu finden. Ich habe das Gefühl, dass er dich braucht. Denn eines sagte mir Professor Herfurth so beiläufig, dass sein ehemaliger Oberarzt Dr. Hans Berring keine Angehörigen haben soll. Er stünde, nachdem nun seine Frau tot ist, völlig alleine da.“

      „Wir müssen herausfinden, wo er ist. Veronika, hilfst du mir?“

      „Aber, mein Liebes, ich habe dir doch immer geholfen, und das weißt du.“

      20

      Die Chirurgin war eine Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie sah sehr attraktiv aus, doch ihr Haar zeigte bereits einen deutlichen Silberhauch, und um ihre Augen hatten sich Spuren eines rastlosen, aufopfernden Daseins eingegraben. Es waren gute Augen, die Dr. Hans Berring anblickten. Seine Hand lag auf einem schmalen Untersuchungstisch, der gepolstert war.

      Der Verband war längst nicht mehr nötig. Inzwischen hatten sich dort Narben gebildet, wo ihm die Hand zerschmettert worden war. Noch immer lagen die Finger kraftlos, als seien sie nur an die Hand angehängt, auf dem Tisch.

      „Wir wollen uns nichts vormachen“, sagte die Chirurgin, „selbst wenn es gelingt, die Funktionsfähigkeit sämtlicher Finger in allen Gliedern wiederherzustellen, wird die Lähmung verbleiben. Ich mache kein Hehl daraus, dass es eine schwierige Operation wird. Aber die Lähmung selbst ist nicht zu beheben. Sie werden also weiterhin nicht imstande sein, die Hand richtig zu bewegen. Sie werden auch, vermutlich nie mehr ein richtiges Gefühl in der Hand haben. Lieber Herr Kollege, ich weiß, was das für Sie bedeutet. Ich kann mir ja vorstellen, was es für mich bedeuten würde, aber ich kann Sie nicht belügen. Und selbst meine Fachkenntnisse reichen nicht aus, ein Wunder zu vollbringen.“

      Hans nahm es gefasst hin. Er hatte ohnehin kaum noch die Hoffnung gehabt, dass sich an dem Zustand seiner Hand etwas verändern könnte. Und die langwierigen Untersuchungen, die diese in ganz Europa bekannte Chirurgin angestellt hatte, brachten auch nur die Bestätigung dessen, was Dr. Berring, der selbst ein begnadeter Chirurg gewesen war, schon zu wissen glaubte.

      „Es ist also aus“, sagte er.

      „In der Chirurgie ja“, pflichtete sie ihm betrübt bei. „Aber die Medizin ist ja ein weites Feld. Mein Gott, Ihr Chefarzt, Professor Herfurth, den ich ja sehr schätze und schon lange kenne, hat mir von Ihnen erzählt. Es ist eine einzige Lobeshymne gewesen.“

      Hans winkte bescheiden ab. „Er hatte auch schon Grund zum Tadel. Ich hab mir auch damals, als ich von der Krankheit meiner Frau erfahren habe, Fehler erlaubt.“

      Die Chirurgin lächelte schmerzlich. „Wenn wir alle unsere Fehler auf eine Tafel schreiben müssten, man könnte vor Tafeln keinen Baum und kein Haus mehr auf der Welt sehen. Lieber Herr Kollege, ich hätte Ihnen gerne etwas anderes gesagt, aber ich wollte Sie ja auch nicht belügen, zumal Sie ja selbst auch schon wissen werden, dass es da praktisch keine Hoffnung gibt.“

      Für Hans war diese Erkenntnis bitter. Sie war geradezu vernichtend. Er nahm sich zusammen, als er sich verabschiedete; er lächelte sogar, und die Chirurgin entließ ihn in dem Glauben, dass er es leichter nehme, als sie gehofft hatte. Aber sie irrte sich. Denn Dr. Hans Berring schien wirklich vernichtet zu sein. Es traf ihn so schwer, dass er den Glauben an sich und die Welt, und schlimmer noch, dass er die Hoffnung verloren hatte.

      Er saß mitunter stundenlang in seiner Wohnung und betäubte seine Verzweiflung mit Alkohol. Am Anfang war es nur ein Schluck gewesen, der es ihm leichter machen sollte, darüber hinwegzukommen. Aber dann wurde es mehr. Und im Laufe der Zeit erfasste ihn eine tiefe Gleichgültigkeit. Der Beginn einer verheerenden Stufe war eingetreten. Er kümmerte sich um nichts mehr, die Wohnung wurde nicht gesäubert, er selbst legte auf sein Äußeres keinerlei Wert mehr. Unrasiert, mit geröteten Augen, hockte er da, mitunter stumpfsinnig, trank und versuchte zu vergessen. Aber er konnte es nicht. Noch lebte er von seinem angesparten Vermögen, das recht beträchtlich war. Er hätte sich eine Aufwartung, eine Wirtschafterin leisten können, aber er wollte niemanden sehen. Er wollte allein sein, allein mit sich und seinem Kummer. Und er dachte an Heidi.

      Immer öfter und immer stärker dachte er an sie. Sah ihr Bild vor Augen, aber das machte seine Verzweiflung nicht geringer, eher größer. Er wusste ja nicht mehr als ihren Vornamen.

      Seit Tagen hatte er die Post nicht mehr geöffnet. Es waren Briefe gekommen, darunter ein Angebot der Farbwerke Höchst. Doch Hans hatte noch nicht einmal diesen Brief angerührt, geschweige denn geöffnet. Und noch ein Brief war da. Die Adresse war in einer schönen, klaren Handschrift geschrieben. Ein weißes Kuvert, aber es lag ebenso unbeachtet zwischen der übrigen Post wie das, was sich tagtäglich mehr an Korrespondenz ansammelte.

      Hans beachtete nichts davon. Mitunter verbrachte er die Nacht im Sessel, angekleidet und verzweifelt. Er aß kaum, magerte ab, und die Tatsache, dass Adventszeit war, dass es auf Weihnachten zuging, interessierte ihn nicht. Manchmal ging er noch nicht einmal an die Tür, wenn es schellte. Aber es war selten, dass jemand läutete.

      Da er die Post nicht öffnete, hatte er auch die Telefonrechnung nicht beglichen, und das Telefon war ihm gesperrt worden, obgleich er es mit Leichtigkeit hätte bezahlen können. Aber es interessierte ihn nicht. Nichts interessierte ihn!

      Draußen im Park im Stadtwald war der erste Schnee gefallen. Ein Hauch nur, der nicht lange halten würde. Kalt war es geworden. Hans hatte sich nicht um die Heizung gekümmert, die viel zu schwach eingestellt war. Er hängte sich eine Decke um die Schultern und schlurfte barfuß durch die Wohnung. Es kostete ihn Mühe, die linke Hand an all das zu gewöhnen, wodurch sie die rechte ersetzen musste. Oft war er ungeschickt. Geschirr fiel ihm zu Boden, zerschellte. Er kehrte es in eine Ecke, wo sich schon anderer Schmutz auftürmte.

      Doch an diesem Vormittag, da draußen der Schnee fiel und ein kalter Wind um die Häuser wehte und die Wipfel der blattlosen Bäume schüttelte und die der Tannen beugte, da geschah etwas mit Hans.

      Ein Gedanke war ihm gekommen! Er hatte einen Entschluss gefasst! Die Flasche, sonst Ersatz für sein Frühstück, blieb unbeachtet stehen. Er war völlig nüchtern. Er trat ans Fenster, krallte die Finger seiner gesunden linken Hand in die Gardine und starrte hinaus in den Park. Drüben auf der anderen Seite rannten Schulkinder, verschwanden dann hinter Büschen. Ein Auto kam langsam angefahren, hielt schräg gegenüber vom Haus, jemand blickte heraus ... Hans erstarrte.

      Es war wie eine Vision. Dieses Gesicht hinter der Autoscheibe!

      Heidi!

      Aber der Wagen fuhr weiter, verschwand hinten um die Ecke.

      Hans spürte, wie er zitterte. Das Delirium, dachte er. Ich habe so viel getrunken, dass ich mich schon im Delirium befinde, ich sehe Dinge, die es nicht gibt, ich bin verrückt!

      Schluss jetzt!

      Ich muss Schluss machen mit all dem. Ich muss wieder ein Mensch werden. Und dann tue ich, was ich vorhin beschlossen habe. Ich werde Heidi suchen, ich werde sie suchen, und wenn das der Lebenszweck ist bis ans Ende meiner Tage. Ich werde sie finden.

      Er sah sich um. Im Wohnzimmer sah es aus, als hätten hier die Vandalen gehaust. Erst jetzt bemerkte er diese Dinge, diese Unordnung, diese Verlotterung. Und als er in die Küche kam, erschrak er. Du lieber Himmel, dachte er,

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