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blickte ihr schuldbewusst entgegen.

      Sie fand es so rührend, dass sie ihm alles verzieh und sich selbst hart und unnachsichtig schalt. Sie ging zu ihm, stellte sich auf Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf seine unrasierte Wange. Er hatte die Gummihandschuhe an und die waren nass, so dass er sagte: „Ich kann dich leider nicht umarmen. Ich möchte es aber so gerne.“ Er blickte sie traurig an. „Heidi, etwas ist zwischen uns. Ich weiß nicht, was es ist. Ich gebe zu, ich habe gestern Abend gefeiert, und wir waren sehr ausgelassen ... Ich habe Renate beim Tanzen geküsst. Es war wirklich harmlos. Die anderen haben es auch gesehen. Glaube mir, es ist nichts dahinter. Ich habe auch gar kein schlechtes Gewissen. Es war nur ein Kuss.“

      „Renate?“, fragte sie.

      „Ja, Fräulein Friedländer.“

      Er ist ehrlich, dachte sie, er erzählt mir sogar das. Sollte ich nicht die Karten aufdecken, mit ihm reden? Nein, vielleicht später. Jetzt könnte ich es noch nicht. Er würde sofort merken, dass es eben nicht nur ein flüchtiger Kuss, ein halber Scherz, ein Flirt war, sondern etwas ganz Ernstes, wahnsinnig ernst, das spüre ich jetzt erst.

      Später, als sie mit der Küche fertig waren, ging er ins Wohnzimmer, setzte sich in den Sessel und sie beobachtete ihn von der Küche her, als sie Kaffee kochte.

      Wir haben so viel gemeinsam erlebt, dachte sie, und doch ist er mir jetzt wie jemand, den ich zwar ganz gerne habe, der mir wie ein Freund ist, aber nicht wie jemand, nach dessen körperlicher Berührung ich mich sehne, den ich streicheln möchte, von dem ich wünsche, dass er mich an sich zieht. Warum nur ist alles mit einem Male kaputt? Warum nur?

      5

      Dr. Hartmut Timmel war ein Mann Mitte Fünfzig, groß, mit grauen Haaren und einer Stirnglatze. Er streifte die Einweghandschuhe ab, versenkte sie im Abfallkübel und blickte dann auf seine Patientin. „Sie können sich wieder anziehen, Frau Berring“, sagte er und beobachtete aus den Augenwinkeln die schlanke Frau mit dem kupferroten Haar. Sie war eine etwas zerbrechliche Schönheit mit blassem Gesicht und einem Paar leuchtender grüner Augen, unter denen dunkle Ränder lagen, die auch der leichte Puderhauch nicht verdecken konnte. Ein fülliger Mund und eine schmale nervige Nase vervollkommneten dieses rassige Gesicht. Diese Frau war voll erblüht in der Schönheit ihrer fünfunddreißig Jahre. Man sah ihr an, dass sie sich dieser Schönheit bewusst war, da sie in ihren Gesten und Bewegungen die Anziehungskraft ihres Körpers ausspielte. Aber sie war zugleich eine kranke Frau, wie Dr. Timmel eben festgestellt hatte. Die Schwere ihrer Krankheit allerdings kannte er noch nicht. Die Diagnose stand dafür noch nicht fest, aber er war sicher, auch dies bald festgestellt zu haben. Als er sich die Hände wusch, sagte er, ohne zu dem spanischen Schirm zu sehen, hinter dem sie sich ankleidete: „Ihr Gatte weiß doch sicher, dass Sie hier sind?“

      Nach einem kurzen Zögern kam die Antwort: „Nein, ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen. Er war auf einem Kongress in München, und wollte eigentlich gestern Abend schon wieder zurück sein. Aber er hat mich von irgendwo unterwegs angerufen. Und Sie haben sicher auch im Fernsehen gesehen, dass die Autobahn so furchtbar verstopft war. Er hat einfach irgendwo übernachtet, und ich denke, dass er daheim ist, wenn ich nachher nach Hause komme.“

      „Wäre es dann möglich, dass er mich einmal anriefe?“

      Einen Augenblick war Stille. Dann fragte Ingrid Berring mit einem leicht nervösen Unterton: „Ist denn etwas?“

      Dr. Timmel bemühte sich, die Sache so unbedeutend wie möglich erscheinen zu lassen und sagte leichthin: „Ach wo, ich wollte mit Ihrem Herrn Gemahl einmal sprechen. Schließlich kennen wir uns schon lange und da sind ein paar Dinge, die ich schon längst einmal mit ihm bereden wollte. Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

      Misstrauisch wollte sie wissen: „Aber das hat mit mir nichts zu tun?“

      „Am Rande nur, am Rande“, beteuerte er und trocknete sich die Hände ab. „Da ist eine kleine Geschichte, wie man das eben bei Frauen häufig hat. Ich kann noch nichts Endgültiges sagen, muss die Untersuchungsergebnisse abwarten. Ich habe da eine Gewebeprobe genommen, und wir müssen auch noch eine Röntgenaufnahme machen. Zur Sicherheit natürlich, immer zur Sicherheit, Sie verstehen? Man muss in solchen Dingen immer am Ball bleiben, darf nicht nachlassen, und wenn es noch so klein ist. In der Regel erweist es sich als harmlos.“

      Sie hatte sich das Kleid angezogen, trat hinter dem spanischen Schirm hervor und sah ihn erregt an. „Eine Geschwulst?“, fragte sie mit schriller Stimme.

      Er hob abwehrend die Hände. „Aber meine Liebe!“, rief er. „Ich sagte Ihnen doch, nur eine Kleinigkeit. Man darf nur nicht nachlässig werden in solchen Sachen. Immer sofort hinterher, das ist meine Devise.“

      Sie hatte immer Vertrauen zu ihm gehabt und hatte es auch jetzt. So gab sie sich mit seiner Antwort zufrieden, zog hinten den Reißverschluss ihres Kleides zu, und als sie die Jacke anziehen wollte, half er ihr galant. Sie hatte ihn immer für einen Kavalier der alten Schule gehalten. Das war er sicherlich auch. Oft hatte sie sich gewünscht, Hans wäre ebenso. Auf der anderen Seite hatte Dr. Timmel etwas Undurchdringliches. Hinter sein Lächeln konnte niemand sehen. Sie wusste nicht, was sich hinter der immer gleichmäßig freundlichen Maske verbarg. Da konnte sie in Hans’ Antlitz wesentlich deutlicher lesen. Bei ihm glaubte sie immer zu wissen, woran sie war.

      „Ich schreibe Ihnen hier etwas auf. Das können Sie zwischenzeitlich einnehmen, damit diese kleinen harmlosen Beschwerden weggehen. Wir sehen uns dann in zwei Tagen wieder. Bis dahin habe ich auch die Ergebnisse der Untersuchung, und wir können dann in aller Ruhe über alles sprechen.“

      Als sie sich verabschiedete, bat er sie noch einmal, sie möge doch ihren Mann bitten, ihn anzurufen. Und er fügte hinzu: „Sie wissen ja, er ist sehr schwer zu bekommen. Immer unterwegs. Deswegen wäre es nett, wenn er mich anriefe. Ich habe es schon so oft vergeblich versucht, noch vorige Woche. Aber dann habe ich es aufgegeben.“

      Die Tatsache, dass er berichtete, auch schon in der vorigen Woche angerufen zu haben, beruhigte sie. Jetzt, so dachte sie, bin ich sicher, dass es mit der Untersuchung gar nichts zu tun hat, dass er wirklich mit Hans aus ganz anderen Gründen hat sprechen wollen. Und mit diesem Gefühl verließ sie die Praxis, ging hinunter zu ihrem Wagen und fuhr dann nach Hause.

      Unterwegs dachte sie an Hans, und sie fragte sich, ob er ihr etwas aus München mitgebracht hatte. Für seinen Beruf interessierte sie sich wenig. Sie hatte ihre Welt, ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen, ihre Hobbys wie Reiten und Tennis, dann ihre geliebten Teestunden mit Freundinnen oder Besuche in der Oper, im Schauspielhaus, alles Dinge, die ihr sehr viel bedeuteten. Auch auf ihr Äußeres hatte sie immer sehr großen Wert gelegt. Das dunkelblaue Kleid, das sie jetzt trug, ließ den Schmuck besonders zur Geltung kommen. Und Schmuck bedeutete ihr viel, so viel, dass sie inständig hoffte, Hans hätte ihr irgendeine dieser kostbaren Kleinigkeiten aus München mitgebracht.

      München, dachte sie, da bin ich auch lange nicht mehr gewesen. Es wäre himmlisch, wenn er mich mitgenommen hätte. Aber er ist immer da auf diesen entsetzlichen Kongressen, und ich sitze den lieben langen Tag allein herum und muss warten, bis er dann am Abend endlich Zeit für mich hat. Sie hasste diese Kongresse. Was da vor sich ging, war ihr schleierhaft, und sie hatte nie den geringsten Versuch gemacht, das zu ergründen, ebenso wenig wie sie wissen wollte, was ihr Mann in der Klinik tat. Sie war in ihrer ganzen Ehe zweimal bei ihm im Krankenhaus gewesen, und schon die Atmosphäre schockierte sie. Nein, der

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