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ihnen. Antje war damals zu klein gewesen, um etwas davon mitzubekommen. Ohne Papiere, ohne Geld waren sie in den Westen gekommen.

      Sie hatten nur das besessen, was sie am Leib trugen, und das war herzlich wenig gewesen. Aber die neue Heimat hatte ihnen eine Starthilfe gegeben, und Vater hatte mit Fleiß und Ehrgeiz etwas daraus gemacht.

      Drüben hatte er immer von einem eigenen Laden geträumt. Im Westen war dieser Traum in Erfüllung gegangen, und er konnte nicht verstehen, dass seine Tochter nicht so sehr an dem Geschäft hing wie er.

      Als sie ihre Koffer packte, hatte er mit ihr gebrochen, und auch Mutter hatte ihr nie geschrieben, nicht einmal heimlich - keine einzige Zeile.

      Sie war für mich immer eine fremde Frau, dachte Antje Büchner. So ein Verhältnis möchte ich zu meinem Kind niemals haben. Wie kann einem der Ehemann mehr bedeuten als das eigene Fleisch und Blut?

      Ein Anruf war vielleicht nicht das Richtige. Wenn ein Wort gesagt war, war es draußen. An einem Brief konnte Antje so lange feilen, bis er die richtige Form hatte.

      Sie konnte vier, fünf Fassungen schreiben, streichen, was ihr nicht gefiel, hinzufügen, was noch erwähnt werden musste. Sie konnte Erklärungen anhängen, ungewollte Spitzen abschwächen, hier und dort Retuschen vornehmen.

      Sie konnte den Brief so oft schreiben, bis es keine Missverständnisse mehr geben konnte, bis alle Argumente genau den Punkt trafen, an das Gewissen appellierten, das Herz rührten.

      Wenn wir uns auch entfremdet haben, dachte Antje, so sind wir doch niemals richtige Fremde. Wenn wir bereit sind genau hinzuhören, vernehmen wir den leisen Ruf unseres Blutes.

      Ja, sie würde ihren Eltern einen langen, langen Brief schreiben. Vielleicht nicht gleich heute, aber in den nächsten Tagen. Am Wochenende würde sie für eine erste Fassung Zeit haben.

      Sie machte sich jetzt schon Notizen, schrieb in Stichworten auf, was unbedingt in den Brief hinein musste. Was sie notierte, konnte nicht mehr vergessen werden.

      Sie würde sämtliche Fassungen mit der Maschine schreiben, nur die letzte, die endgültige nicht; die würde sie mit der Hand schreiben, weil sie wusste, dass Vater sehr großen Wert darauf legte.

      Andere waren froh, überhaupt einen Brief zu bekommen. Vater nicht. Wer es nicht der Mühe wert fand, ihn mit der Hand zu schreiben, musste befürchten, dass sein Brief ungelesen im Papierkorb landete, und Antje wollte nicht tagelang an einem Brief schreiben, der dann im Papierkorb >aufbewahrt< wurde.

      Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie das Ende der Arbeitszeit nicht mitbekam.

      Erst als Bernd Riepel sagte: »Feierabend, du darfst nach Hause gehen«, kam sie zu sich.

      »Tschüs, bis morgen«, sagte Antje.

      »Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte der Kollege höflich.

      »Ich möchte noch ein bisschen laufen«, antwortete die werdende Mutter.

      . »Hast du Lust auf einen Entspannungsdrink?«, ließ Bernd nicht locker.

      »Ein andermal«, antwortete Antje. »Ich bin heute nicht in Stimmung.«

      »Das bist du in letzter Zeit ja nie, aber ich mische mich da wohl in Dinge, die mich nichts angehen«, sagte Bernd seufzend und ging.

      Kurz nach ihm verließ Antje Büchner das Studio. Sie freute sich auf den Spaziergang. Es gab so vieles auf dem Heimweg, das sie ablenken würde...

      Jemand hupte kurz. Die junge Frau nahm nicht an, dass sie das anging, reagierte nicht. Erst als sie ihren Namen hörte, blieb sie stehen.

      »Fräulein Büchner!«

      »Herr Doktor Anders!«, rief Antje erfreut aus. »Ist das ein Zufall.«

      21

      Dr. Anders saß Antje im Wohnzimmer gegenüber. Die junge Frau hatte Tee gekocht, und auf einem Bleikristalltablett lagen köstliche Plätzchen.

      »Unsere Begegnung war kein Zufall«, sagte der Chefarzt. »Ich habe auf Sie gewartet, Fräulein Büchner.«

      Antje nickte bedrückt. »Ich kann mir den Grund denken. Ihre Frau hat Ihnen von meinem Pech erzählt.«

      »Ich hoffe, das ist Ihnen nicht unangenehm«, meinte der Mediziner.

      »Ich hätte Ihre Frau damit nicht behelligen sollen. Nun fühlen Sie sich verpflichtet...«

      »Ich wollte nur mal sehen, wie es Ihnen geht, schließlich waren Sie vor einem Jahr eine meiner angenehmsten Patientinnen«, fiel Dr. Anders der Frau ins Wort. »Verpflichtet fühle ich mich zu nichts, aber ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen in irgendeiner Form helfen könnte.«

      Antje Büchner legte ihre Hand auf den Bauch. Man konnte noch nicht sehen, dass sie schwanger war.

      »Ich erwarte ein Kind, dem ich gern die besten Startbedingungen verschafft hätte. Nestwärme ... Den Rückhalt einer intakten Familie ... Wenn es sein muss: die strenge Hand des Vaters ... Aber daraus wird leider nichts.«

      »Weiß Gideon Arendt inzwischen, dass Sie von ihm schwanger sind?«, fragte der Mediziner.

      Antje schüttelte den Kopf. »Es ... es ist mir unmöglich, es ihm zu sagen.«

      »Angenommen, ich würde mit ihm reden. Wäre Ihnen das recht?«

      »Nein.« Es klang fast wie ein Schrei. »Nein«, wiederholte Antje etwas leiser. »Das möchte ich nicht.«

      »Irgendwann müssen Sie ihm von dem Kind erzählen, Fräulein Büchner«, meinte Dr. Robert Anders.

      »Gideon hat sich sehr viel vorgenommen. Er will sich die Welt ansehen. In seinem derzeitigen Leben ist kein Platz für ein Kind. Er müsste auf vieles verzichten, würde das Kind und mich hassen«, erwiderte die junge Frau.

      »Vielleicht reagiert er auf die Nachricht, dass er Vater wird, ganz anders, als Sie denken«, sagte der Chefarzt.

      »Er liebt mich nicht mehr«, entgegnete Antje Büchner.

      »Aber Sie lieben ihn noch«, sagte Dr. Anders.

      »Ich habe ihn an Kitty Kolbert verloren, mit der kann ich nicht konkurrieren«, sagte sie traurig.

      »Das ist nicht wahr. Sie sind ebenso hübsch wie sie«, entgegnete der Arzt energisch.

      »Aber ich bin nicht so exotisch. Eine Malerin, die Erfolg hat.... Das ist etwas Besonderes,«

      »Vielleicht kann ich Kitty Kolbert überreden, sich von Gideon Arendt zu trennen. Wenn sie erfährt, dass er Vaterfreuden entgegensieht, wird sie ihn freigeben. Ich wollte vorher nur in Erfahrung bringen, ob Sie Herrn Arendt auch wirklich wiederhaben wollen, damit sich die Mühe auch lohnt«, erwiderte Dr. Anders.

      »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erlauben soll. Ich weiß bald überhaupt nicht mehr, was ich eigentlich will«, meinte die werdende Mutter nachdenklich.

      »Dann wird es Zeit, dass jemand die Dinge wieder an den richtigen Platz rückt«, sagte Dr. Anders energisch.

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