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vergesse ich ab und zu, dass ich dazu in der Lage bin«, gab er so gleichmütig wie möglich zurück. Aber innerlich fühlte er sich wie abgestorben. Wie würde er das jemals vergessen können? Nein. Er hatte die Wunde noch, weil sie ihn daran erinnerte, dass seine Geschichte verändert werden konnte, zumindest in den Details. Von einem Schnitt an seiner Hand hatte er niemals geschrieben.

      Er verscheuchte den Anflug von Hoffnung, der ihn bei diesem Gedanken ergriff, und sah zu, wie sein Vater den Füller aufschraubte und dann mit rascher Hand etwas auf einen der teuren Briefpapierbogen der Familie kritzelte. Leuchtend blau floss die Schrift aus der Spitze der Feder auf das Blatt.

      Nicholas schloss die Faust fester um den Verband. »Ich dachte, du hast verboten, unsere Gabe für Banalitäten einzusetzen«, murmelte er. Er wusste, dass er aufsässig klang, und musste wieder an die kleine Marie-Claire denken. Hätte sein Vater von ihr gewusst, hätte er Nicholas dafür bestraft. Nicholas überlegte ernsthaft, ob er ihm davon erzählen sollte. Dann hätte Caruel wenigstens etwas gehabt, das ihm half, wütend auf seinen Sohn zu sein.

      Caruel setzte einen Punkt hinter das Geschriebene und schaute auf. »Ich denke, du kannst den Verband jetzt abnehmen.« Die Linie seines Unterkiefers war ein scharfer Bogen.

      Nicholas wickelte langsam die Binden ab. »Du verlangst von mir, mich an deine Regeln zu halten, und tust es selbst nicht«, sagte er.

      Sehr behutsam legte Caruel den Füller fort.

      Nicholas trat vor und legte die blutige Binde auf die Kante von Caruels Schreibtisch. Dann betrachtete er seine Handfläche.

      Die Wunde war fort.

      Er atmete tief ein. »Ich hätte es vorgezogen, sie zu behalten, aber dich hat ja noch nie interessiert, was ich will.«

      Er wartete darauf, dass sein Vater explodierte, wie er es gewöhnlich tat, wenn er ihn auf diese Weise provozierte. Aber die Situation war nicht gewöhnlich. Ganz im Gegenteil.

      Caruel blieb ruhig. Wortlos krempelte er seinen Hemdärmel hoch. Während sich die blaue Flammenschrift bei Nicholas nur millimeterweise in Richtung Ellenbogen vorgearbeitet hatte, bedeckte sie bei seinem Vater bereits den halben Unterarm.

      Nicholas schluckte. »Was hast du getan?«

      Er wusste aus schmerzlicher Erfahrung, dass das Flammenmal aufleuchtete, wenn man versuchte, sich gegen die Geschichte zu wehren. Gestern Abend im Club zum Beispiel hatten die Schmerzen immer dann zugeschlagen, wenn er sich mit dem Mädchen in Schwarz befasst hatte statt mit Mila.

      Offenbar hatte sein Vater bereits sehr viel größere Anstrengungen unternommen, das, was geschehen würde, zu verhindern. »Was, Vater?«, musste Nicholas die Frage ein zweites Mal stellen, weil Caruel nicht antwortete.

      »Ich habe versucht, die Stadt zu verlassen.«

      Nicholas senkte das Kinn. »Und es hat immer noch nicht funktioniert.« Er selbst hatte bisher viermal versucht, aus Paris fortzugehen, weil nur an diesem Ort die Fabelmacht Einfluss hatte. Jedes Mal hatte sich die blaue Flammenschrift auf seinem Arm gebildet und je weiter er fortgefahren war, umso größere Flächen seines Körpers hatte sie bedeckt und ihn mit ihrem Feuer fast in den Wahnsinn getrieben. Aber es waren nicht die Schmerzen, die ihm Angst machten. Sondern das, wozu sie ihn werden ließen. Zu einer Gefahr nicht nur für sich, sondern auch für andere. Gestern in der Bar zum Beispiel hätte er um ein Haar das Messer auf Luc gerichtet. Auf seinen besten Freund! Und wenn das wirklich passiert wäre, er hätte nicht garantieren können, dass er nicht zugestochen hätte.

      »Nein«, murmelte Caruel nun. »Es geht immer noch nicht.«

      Die Mutlosigkeit, die Nicholas gestern im Club schon verspürt hatte, kehrte zurück und diesmal war sie so stark, dass er sich nicht anders dagegen wehren konnte als mit schwarzem Humor. »Tja«, sagte er trocken. »Fang schon mal an, dir zu überlegen, was an mir Gutes war, damit du auf meiner Beerdigung die Grabrede halten kannst.«

      »Himmel noch mal!«, schrie Caruel. In einer Geste voller Verzweiflung warf er die Arme in die Luft. »Hör auf, so verdammt lässig zu sein! Alles, was ich will, ist, dass du …« Der Atem stockte ihm. »Leben kannst.«

      Nicholas schwieg.

      »Du bist doch mein Sohn, mein Gott!«

      Caruel fuhr wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Wenn es überhaupt möglich war, wurde er noch ein bisschen bleicher als zuvor.

      Nicholas sah, wie sich die Schrift auf dem Arm seines Vaters bis hinauf zum Ellenbogen schob. Er hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie qualvoll das sein musste. So fest, wie er konnte, biss er die Zähne zusammen und verbarg seinen Arm hinter seinem Rücken.

      Aus glasigen, flackernden Augen sah Caruel ihn an. »Serge!«, rief er dann. »Serge, ich brauche Ihre Hilfe!«

      Augenblicklich öffnete sich die Tür. »Ja, Monsieur Caruel?« Eifrig beflissen baute sich Serge neben Nicholas auf. Er hatte wie immer, wenn er im Dienst war, ganz in der Nähe gewartet, bis er gebraucht wurde.

      Caruel atmete einmal tief durch. »Du kannst jetzt gehen«, sagte er zu Nicholas. Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm sich ein Blatt. Als er den Füller aufschraubte und zu schreiben anfing, konnte Nicholas einen Blick darauf erhaschen.

      Er las einen Namen. Serge. Und er wusste, was nun geschehen würde. »Nein, Vater!« In seiner Stimme lag Grauen. »Du musst das nicht tun! Du kannst …«

      »Sei still!« Caruel schrie jetzt. »Du selbst hast dafür gesorgt, dass ich das hier tun muss. Jetzt beklag dich nicht!« Er wedelte durch die Luft, als sei Nicholas ein lästiges Insekt. »Geh und lass mich erledigen, was nötig ist. Geh!«

      Fieberhaft überlegte Nicholas, was er tun konnte, um das Kommende zu verhindern. Aber als er sah, wie mit jedem Wort, das sein Vater schrieb, die Flammenschrift auf dessen Arm sich zurückzog, da war ihm klar, dass es keinen Ausweg gab.

      Und die Schuldgefühle, die er die ganze Zeit schon empfand, wuchsen ins Unermessliche.

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      Es war kurz nach ein Uhr mittags, als Mila und Isabelle aus der Kathedrale Notre-Dame ins Freie traten. Mila spielte mit dem Gedanken, zum Flussufer zurückzugehen und den Buchhändler zu fragen, warum er ihr das Buch geschenkt und was es mit den Worten auf der ersten Seite auf sich hatte. Doch Isabelle ließ sie nicht, sondern zog sie mit sich in ein kleines Lokal ganz in der Nähe der Kirche, das allen Ernstes Quasimodo hieß.

      »Ein bisschen tourimäßig, aber die Croques hier sind ganz okay«, sagte sie gönnerhaft, als sie sich auf eine der Bänke fallen ließ, die ringsum an den Wänden standen. Noch bevor Mila es sich selbst bequem gemacht hatte, hatte Isabelle schon den Kellner herbeigewinkt und zwei Cola und je ein Croque Monsieur und ein Croque Madame bestellt.

      Mila warf ihr einen strafenden Blick zu. »Man könnte meinen, du leidest an einer Schilddrüsenüberfunktion, so hektisch, wie du immer bist.«

      Isabelle lachte nur.

      Der Kellner, der aussah, als wäre er gerade zwölf geworden, brachte ihre Cola und zwei Gläser mit je einem Eiswürfel. Isabelle zwinkerte ihm zu und sie lachte, als er rot wurde.

      Mila verpasste ihr unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein. »Du bist unmöglich!«

      Isabelle lachte nur noch lauter und als ein Pärchen am Nachbartisch genervt zu ihr herübersah, grinste sie die Leute fröhlich an. »Genießt eure Zweisamkeit, solange sie dauert!«, riet sie ihnen.

      Mila verdrehte die Augen. Dann nahm sie den Gedichtband aus ihrer Umhängetasche, die sie zwischen den Füßen stehen hatte, und betrachtete das Bild auf dem Umschlag. »Was meinst du, warum hat er es mir geschenkt?«

      Isabelle zuckte mit den Schultern. »Er hat nur gesagt, er hätte das Gefühl, du solltest es haben. Vielleicht gehört er zu dieser Fraktion von Spinnern,

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