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sein, sodass ihre Strahlen jetzt durch ein anderes Fenster fielen. Plötzlich war die Kirchenkuppel erfüllt von einem intensiven blauen Schimmern.

      Erschrocken sah Mila sich um. Isabelle stand in einiger Entfernung und unterhielt sich mit einem weißhaarigen Mann, in dem Mila den Buchhändler erkannte, bei dem sie eben beinahe das Baudelaire-Buch gekauft hatte. Was wollte er hier?

      Sie wandte sich wieder der Metalltür zu. In ihrer Fantasie flackerte ein Bild auf. Das Bild einer unendlich langen Treppe, die sich hinter dieser Tür in die Tiefe wand, vorbei an den Schächten der Metro und tiefer noch als die uralten Gänge der berühmten Katakomben. Weit, weit hinab in das Gestein unter dieser Stadt …

      Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Sie musste sich aus dieser merkwürdigen Stimmung befreien. So wie diese Tür aussah, befand sich dahinter wahrscheinlich eine Abstellkammer, in der Putzzeug aufbewahrt wurde.

      »Marie-Claire!«, hörte sie eine Frau rufen und der Zauber verflog. Auf einmal war die Tür nur eine Tür und die Sonnenstrahlen, die durch die Fenstergaden fielen, nur Licht, dessen blaue Farbe der ihrer Schrift nicht im Geringsten ähnlich sah. »Komm sofort hierher, Marie-Claire!«

      Mila drehte sich langsam um. Sie musste an ihre Geschichte über das kleine Mädchen mit den großen Augen denken, dem die Puppe am Eiffelturm kaputtgegangen war. Das Mädchen hatte auch Marie-Claire gehießen.

      Ein Zufall? Andererseits, nach dem, was sie im Club erlebt hatte …

      »Marie-Claire! Jetzt nimmst du dich zusammen!«, keifte die Stimme quer durchs Kirchenschiff.

      Mit klopfenden Herzen folgte Mila dem Ruf und im selben Moment atmete sie erleichtert auf. Die Marie-Claire, mit der die Frau schimpfte, war mindestens zwölf oder dreizehn. Sie hatte das mürrische Gesicht eines Teenagers, der von seinen Eltern zum Besichtigen dieser Kirche genötigt worden war, und sie hielt ein Eis in der Hand, von dessen Waffel es auf die Fliesen tropfte.

      Mila ließ sich auf eine der Kirchenbänke sinken. Sie kam sich dumm vor. Natürlich war das nicht die Marie-Claire aus ihrer Geschichte. Das Mädchen gab es schließlich in Wirklichkeit nicht.

      »Herrgott noch mal!«, schimpfte die Frau. »Pass doch auf! Du kleckerst ja alles voll!«

      Marie-Claire zuckte gleichgültig mit den Schultern.

      Ärgerlich packte ihre Mutter sie am Arm und zerrte sie mit sich, dabei begegnete der Blick des Mädchens kurz dem von Mila. Sie wirkte zufrieden. Mila war sich ganz sicher, dass sie die Fliesen absichtlich vollgekleckert hatte, um endlich von hier wegzukönnen.

      »Immer diese Touristen!« Isabelle trat zu ihr. Sie hatte ein Buch in der Hand, das der Buchhändler ihr offenbar gegeben hatte.

      Mila deutete darauf. »Was ist das?«

      Isabelle drehte es so, dass sie den Titel lesen konnte. Es war die teure Baudelaire-Ausgabe. »Er ist uns nachgekommen, weil er das Gefühl hatte, dass du es haben solltest.«

      Sie reichte Mila das Buch, die nahm es, strich über den Einband. »Was wollte er dafür haben?«

      »Nichts.« Isabelle wirkte verwundert, aber nicht allzu sehr. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, der sich über eine gute Gelegenheit freute, statt sich Gedanken über den Grund dafür zu machen.

      Mila schlug die erste Seite des Buches auf. Jemand hatte mit Bleistift etwas hineingeschrieben, das war ihr vorhin am Stand gar nicht aufgefallen. Mit gerunzelter Stirn las sie die paar Worte.

      Weißt du, dass du die Fabelmacht besitzt?, stand dort.

      Etwas streifte Mila eisig kalt. Ihr Kopf ruckte hoch. Sie hatte keine Ahnung, was die Fabelmacht war. Aber das Wort hatte einen unheimlichen Klang.

      Hastig sah sie sich nach dem Buchhändler um, doch von ihm war keine Spur mehr zu sehen. Dafür hatten Marie-Claire und ihre Mutter nun den Ausgang erreicht.

      »Lass mich los!«, fauchte Marie-Claire und riss ihrer Mutter ihren Arm weg.

      »Jetzt reicht es!«, schnauzte die Mutter sie an.

      Mila hatte Mühe, in die Realität zurückzukehren. Weißt du, dass du die Fabelmacht besitzt? Das klang wie ein Geheimcode. Eine Anspielung, die nur Eingeweihte verstanden. Warum, fragte Mila sich, war sie eigentlich so entsetzt darüber? Vielleicht hatte jemand schon vor vielen Jahren diesen merkwürdigen Ausdruck hineingeschrieben und es hatte nicht das Geringste mit ihr zu tun.

      Es war die einzige logische Erklärung. Mit einem Kopfschütteln steckte sie das Buch in ihre Umhängetasche.

      Isabelle starrte noch immer der Mutter und dem Teenager hinterher. »Touristen!«, wiederholte sie abfällig. Eine Schulklasse betrat die Kirche und füllte die bis eben gedämpfte Stille mit ihren hellen Stimmen.

      »Genau«, stimmte Mila ihr zu. »Wie gut, dass ich nicht dazugehöre.«

      Da stutzte Isabelle. Dann lachten sie beide.

      »Also, ich könnte jetzt auch ein Eis vertragen«, verkündete Isabelle.

      Mila grinste sie an. »Aber pass auf, dass du den Fußboden nicht vollkleckerst!«, riet sie.

      Am Morgen nach dem Clubbesuch stand Nicholas in der Bibliothek seines Vaters, im Stadthaus der Familie Caruel in der Rue des Rondeaux. Die Morgensonne schien durch das Fenster auf den alten Orientteppich und den wuchtigen Schreibtisch, hinter dem sein Vater saß, ihn musterte und dabei mit dem Füllfederhalter einen Rhythmus auf die Tischplatte trommelte.

      Die kleinen Putten an der Stuckdecke blickten aus ihren Akanthusranken spöttisch auf Nicholas herab, so kam es ihm zumindest vor.

      Er trug ein frisches Hemd und eine saubere Jeans und der Verband, den er sich um die verletzte Hand gewickelt hatte, wies winzige rote Flecken auf.

      Draußen vor dem Fenster rauschte der Pariser Berufsverkehr vorbei. Hunderte Menschen in ihren Autos und in öffentlichen Verkehrsmitteln, die keine Ahnung davon hatten, dass sich tief unter ihnen ein geheimer Tunnel befand, der das Haus der Caruels mit der Krypta unter dem Friedhof Père-Lachaise verband. Durch diesen Tunnel hatte Nicholas kurz zuvor das Haus betreten. Nachdem er gestern Abend von Sacré-Cœur aus in die Rue des Rondeaux zurückgekehrt war, war er in sein Zimmer gegangen, ohne mit seinem Vater zu sprechen. Er hatte versucht, ein bisschen Ruhe zu finden, aber als er es kurz vor dem Morgengrauen in der Enge seines Zimmers nicht mehr ausgehalten hatte, war er in die Krypta gegangen, um nachzudenken. Dort hatte Serge ihn vorhin gefunden, der Leibwächter seines Vaters. Und er hatte ihm ausgerichtet, dass Caruel ihn zu sehen wünschte.

      Umgehend.

      Jetzt deutete Caruel mit der Spitze seines Füllers auf Nicholas’ weiße Binde. »Was hat das zu bedeuten?«

      Nicholas blickte auf seine Hände nieder. »Das stammt von gestern Nacht.«

      »Und du hast einfach mal eben vergessen, wie man so was wegerzählt?«, fragte Caruel.

      Nicholas schüttelte den Kopf.

      »Warum hast du die Wunde dann noch? Du nutzt deine Gabe schließlich doch sonst auch für jede Banalität, obwohl ich dir schon tausendmal gesagt habe, dass sie dafür nicht da ist.«

      Nicholas ballte die Faust um den Verband. Wusste sein Vater von der kleinen Marie-Claire und ihrer kaputten Puppe? Nein. Wie sollte er? Villain Caruel war fabelmächtig, doch er konnte keine Gedanken lesen. Er konnte unmöglich von dem kleinen Mädchen wissen. Was er aber sehr wohl wusste, war die Tatsache, dass Nicholas sich immer wieder über die Regeln hinwegsetzte, und zwar sowohl über jene, die Caruel aufgestellt hatte, als auch über jene, die allgemeingültig waren. Dass die Gabe nicht für Banalitäten genutzt werden sollte, war Caruels Regel. Dass die Macht nicht benutzt werden durfte, wenn ein Außenstehender es mitbekam, war hingegen ehernes Gesetz. Nur durch strengste Geheimhaltung war es über die Jahrhunderte hinweg gelungen, die Existenz der Fabelmächtigen vor dem Rest der Welt verborgen zu halten.

      Mit seiner Hilfe für die kleine Marie-Claire hatte Nicholas beide Regeln gebrochen.

      »Warum hast

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