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Vielleicht aber wollte er mir mit der Frage auf der ersten Seite auch irgendwas sagen.

      Mila kratzte sich die Stirn. Was für ein Unsinn! Hatte sie nicht entschieden zu glauben, dass die Schrift schon alt war?

      »Wenn du willst, gehen wir später noch zu ihm runter und fragen ihn«, sagte Isabelle.

      Mila überlegte. Wollte sie das noch? Inzwischen war sie sich nicht mehr so sicher. Sie kam sich immer noch paranoid vor. Was, wenn der Buchhändler sie bei der Frage auslachte? Andererseits: Er musste doch einen Grund gehabt haben, ihr das Buch zu geben.

      Auf gut Glück blätterte sie die Seiten um und landete bei einem Gedicht, das ausgerechnet »Grabstätte« hieß. »Zur Stunde, da die keuschen Sterne schläfrig die Augen schließen«, las sie vor.

      Isabelle stöhnte. »Verschon mich! Ich habe Baudelaire gelesen, als ich Teenager war, aber inzwischen …«

      Mila klappte das Buch wieder zu und betrachtete erneut den Einband. Grabstätte, dachte sie. Plötzlich kamen ihr die Worte der unfreundlichen Madame Fourier in den Sinn, der ehemaligen Nachbarin ihrer Eltern.

      Wer schreibt denn Buch um Buch über diesen schrecklichen Friedhof?, hatte sie gesagt.

       Dieser schreckliche Friedhof …

      Mila erinnerte sich daran, wie sie selbst in den Büchern ihrer Mutter darüber gelesen hatte. Wie heiß er nur? Mit dem Daumennagel klopfte sie sich nachdenklich gegen die Zähne und während der Kellner kam und ihnen ihre überbackenen Toasts brachte, kramte sie ihr Notizbuch hervor. Irgendwo darin hatte sie es aufgeschrieben.

      »Willst du lieber Monsieur oder Madame?«, fragte Isabelle und schob hinterher: »Sag mal, was suchst du eigentlich?«

      Mila blätterte in ihrem Notizbuch herum und ignorierte sie, sodass Isabelle ihr einfach das Croque Madame hinschob. Während ihre Freundin anfing zu essen, hatte Mila gefunden, was sie suchte. »Hier!« Sie tippte auf das Geschriebene. »Dieser Friedhof, von dem die Nachbarin meiner Eltern gesprochen hat.« Sie las den Namen laut vor: »Père-Lachaise.«

      Isabelle nickte und schluckte einen Bissen hinunter. »Das ist ein historischer Friedhof, auf dem viele Berühmtheiten liegen. Was ist damit?«

      »Meine Mutter hat immer wieder darüber geschrieben. Was, wenn dort mein Vater und mein Bruder begraben sind?«

      Isabelle verzog das Gesicht. »Unwahrscheinlich. Zwar werden auf Père-Lachaise wirklich noch Leute beerdigt, aber selten. Außerdem passt es vom Stadtviertel nicht. Vermutlich liegen dein Vater und dein Bruder eher auf dem Friedhof von Montparnasse.«

      »Und wenn nicht?« Mila klappte das Notizbuch zu. »Ich meine: Warum sollte meine Mutter wie besessen von Père-Lachaise sein, wenn dort nicht die Gräber der beiden sind?«

      Isabelle zuckte mit den Schultern. »Père-Lachaise gehörte zum Touristenprogramm wie Sacré-Cœur oder die Bouquinisten. Wenn du willst, können wir gern morgen hinfahren und uns dort ein bisschen umschauen. Sehenswert ist er auf jeden Fall.«

      Isabelle hatte recht. Sehenswert war der Friedhof tatsächlich. Mit seinen unzähligen halb verfallenen Grabmälern und den uralten Bäumen, deren Kronen alles in ein grünliches Halbdämmer tauchten, wirkte Père-Lachaise wie aus der Zeit gefallen. Wunderschön. Es war einer der ältesten Friedhöfe der Welt, das hatte Isabelle Mila gestern erzählt, als sie ihre überbackenen Toasts aufgegessen und sich danach auf den Weg zu dem Buchhändler gemacht und festgestellt hatten, dass der Stand abgeschlossen und verlassen war. Den Rest des Tages hatte Mila dann versucht, ihre toten Verwandten zu vergessen und sich zusammen mit Isabelle mit ein paar von deren Freunden getroffen. Sie hatte sich aber nicht richtig auf die Gespräche konzentrieren können und sich damit entschuldigt, dass sie müde war. In Wirklichkeit wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf nur so herum. Nicht nur ihr Vater und ihr Bruder kamen darin vor, sondern auch immer noch Nicholas und die Ereignisse im Club.

      Heute Morgen dann hatte plötzlich Victor, Isabelles Exfreund, vor der Tür gestanden. Und obwohl Isabelle es geleugnet hatte, hatte Mila ihr angesehen, dass sie sich darüber freute.

      »Ich kann sehr gut allein auf diesen Friedhof fahren«, hatte sie behauptet.

      Aber dann, auf dem Weg, waren ihr Zweifel gekommen, ob sie sich das wirklich antun wollte. Was, wenn sie recht hatte und ihr Vater tatsächlich dort begraben lag? Würde sie damit klarkommen, vor dem Grab zu stehen und darauf die vertrauten Namen zu lesen? Allein die Vorstellung hatte ihr ein solch mulmiges Gefühl verursacht, dass sie nach dem Frühstück zuerst zum Fluss gefahren war, um den Buchhändler nach dem Satz in dem Baudelaire-Band zu fragen. Zu ihrer Enttäuschung jedoch war der Stand des Mannes immer noch abgeschlossen gewesen. Also war Mila eine Weile lang unschlüssig in der Stadt herumgewandert.

      Jetzt, wo sie endlich hier war, fühlte es sich aber irgendwie richtig an, allein hergekommen zu sein.

      Der ewige Verkehrslärm der Stadt schien wie abgeschnitten worden zu sein in dem Moment, als sie durch das Friedhofstor gekommen war. Und selbst das Lachen und Schreien einer Gruppe Jugendlicher, die offenbar auf Klassenreise waren, konnte die friedliche und getragene Atmosphäre dieses Ortes kaum stören.

      Mila betrachtete die riesige Anzeigetafel. Hier konnte man erfahren, welche Berühmtheiten hier begraben lagen und vor allem in welchem Bereich des Friedhofs. Sie las eine ganze Menge bekannte Namen, unter ihnen Schriftsteller wie Oscar Wilde, Honoré de Balzac, Molière und Marcel Proust, aber auch Leute wie Jean-François Champollion, der Ägyptologe, der dadurch berühmt geworden war, dass er die Hieroglyphen entschlüsselt hatte, oder die Opernsängerin Maria Callas und der Rockstar Jim Morrison hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.

      Es dauerte gar nicht lange und Mila fand, was sie gesucht hatte. Die Gräber aus der Zeit von vor knapp zwanzig Jahren lagen in einem Bereich ganz in der Nähe der östlichen Friedhofsmauer.

      Mila wandte sich um und holte tief Luft. Sie wusste nicht, was genau sie erwartete und was es mit ihr machen würde, aber sie wollte sich ihm stellen.

      Die üppige Natur um sie herum tat ihr gut. Und die Stille auch. Die uralten und teilweise verfallenen Grabmäler waren schon so lange hier, dass sie etwas Beruhigendes an sich hatten. Egal, was auch immer draußen in der Welt passieren mochte, hier verging die Zeit in einem anderen Rhythmus. Milas Herzschlag verlangsamte sich, sie glaubte, tiefer und freier atmen zu können. Die Luft zwischen den uralten Mauern und Mausoleen roch frischer als in den Straßen der Stadt. Grüner. Lebendiger.

      Eigentlich absurd, dachte sie, wenn man in Betracht zog, dass der Tod hier allgegenwärtig war.

      Auf dem Weg über den Friedhof wurde Mila ruhiger. Zwischendurch vibrierte ihr Handy und zeigte an, dass sie eine Nachricht erhalten hatte. Sie war von Isabelle.

      »Victor ist so süß!!!«, hatte sie geschrieben, mehrere Kusssmileys dahintergesetzt und dann in schneller Folge nacheinander zwei weitere Nachrichten geschickt.

      »Der bereut echt, dass wir nicht mehr zusammen sind!!!!«

      »Wir sitzen im Chez Jacques, kannst du dir das vorstellen??«

      Mila hatte keine Ahnung, was das Chez Jacques war, aber dem Champagnerglas-Emoji nach zu urteilen, das ihre Freundin hinter die beiden Fragezeichen getippt hatte, musste es ein teures Lokal sein.

      Bevor sie antworten konnte, schickte Isabelle noch eine weitere Nachricht. »Ich muss jetzt zurück. Der denkt sonst noch, ich bin durch das Klofenster abgehauen.«

      Schmunzelnd tippte Mila: »Amüsier dich!«, und Isabelles Antwort kam nur Sekunden später.

      »Worauf du Gift nehmen kannst. Apropos: Was wollen wir heute Abend essen?«

      Mila musste lachen. So viel und so oft, wie Isabelle aß, war es ein Wunder, dass sie so schlank war.

      »Keine Ahnung«, tippte sie im Gehen. »Entscheide du.« Sie schickte die Nachricht ab. Als sie aufsah, fiel ihr Blick auf eine der Nummern, mit denen die Bereiche gekennzeichnet waren. Sie war am Ziel.

      Mit klopfendem

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