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zögerte. »Ist das erlaubt?«

      Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Aber im Sitzen redet es sich besser, finde ich. Und die beiden werden nichts dagegen haben.« Er setzte sich auf den Sockel, auf dem der Sarkophag stand.

      Mila zögerte noch immer. Beiläufig überflog sie die Inschrift auf dem Sockel. Der Mönch, der hier begraben lag, hieß Abélard, die Nonne, die offenbar seine Geliebte gewesen war, Héloise. Mila erinnerte sich daran, dass sie beide Namen vorhin auf der Übersichtstafel gelesen hatte. Sie waren ihr aufgefallen, weil sie keine Nachnamen hatten.

      »Hör zu, Mila, …«, begann der Buchhändler und da erschrak sie.

      »Woher kennen Sie meinen Namen?« Obwohl sie noch kurz zuvor nichts lieber gehabt hätte als ein paar Antworten, wollte sie jetzt nur noch weg von hier. Dieser Mann war ihr unheimlich. Aber sie lief nicht weg. Stattdessen tastete sie nach der Eisenkette neben der Pforte.

      Der Buchhändler sah es.

      Er seufzte. »Das ist eine sehr lange Geschichte«, antwortete er. Er klopfte neben sich auf den Steinsockel. »Setz dich zu mir, dann will ich versuchen, dir wenigstens den Teil davon zu erzählen, den ich selbst kenne.«

      Mila sah ihrer Mutter so unfassbar ähnlich, dass es Maréchal beinahe den Boden unter den Füßen wegzog. Die gleichen Augen. Und doch war da etwas in ihnen, etwas, das ihn an Jacques denken ließ, an ihren Vater, der sein bester Freund gewesen war. Im Gegensatz zu Helena, die kaum einmal lächelte, hatte Jacques immer dieses leicht spöttische Funkeln im Blick gehabt. Er hatte die Welt nie so ernst genommen, wie es vielleicht nötig gewesen wäre.

      Am Ende hatte ihn das auch das Leben gekostet.

      Maréchal verscheuchte die aufflackernden Erinnerungen. Jetzt galt es, sich auf dieses Mädchen zu konzentrieren, das Teil von Nicholas’ Geschichte war und gleichzeitig Helenas Tochter.

       Gute Güte!

      Mila stand noch immer unschlüssig an der Pforte zum Grabmal, aber immerhin hatte sie die Kette wieder losgelassen. Maréchal räusperte sich. »Du musst keine Angst vor mir haben. Ich meine: Ich bin über sechzig und nicht besonders gut in Form. Was könnte ich dir schon antun?«

      Er schluckte, weil er an den Kugelschreiber in seiner Jackentasche denken musste. Er brauchte weder eine Waffe noch große Körperkraft, um Dinge zu tun, von denen Mila vermutlich bisher nicht einmal geträumt hatte. Aber er würde sich lieber die Zunge abbeißen, als ihr das jetzt schon zu sagen.

      Wie er allerdings dieses Gespräch hier durchstehen sollte, war ihm völlig schleierhaft. Als er Milas Freundin gestern den Baudelaire-Band gegeben und sie gebeten hatte, ihn an Mila weiterzureichen, hatte er beobachtet, was passierte. Wie er es erwartet hatte, hatte Mila das Buch aufgeschlagen und dabei die Frage auf der ersten Seite entdeckt.

       Weißt du, dass du die Fabelmacht besitzt?

      Sie war verwirrt gewesen, das hatte er ihr ansehen können. Und da war es ihm klar gewesen: Sie hatte nicht die geringste Ahnung, welche Fähigkeiten sie besaß. Und vor allem hatte sie keine Ahnung von dem, was vor sich ging. In diesem Augenblick hatte er das spontane Bedürfnis verspürt, sie zu beschützen vor dem, was auf sie zukam. Auch wenn er selbst nur zum Teil verstand, wie das alles zusammenhing: Er empfand es einfach als seine Pflicht, Mila zur Seite zu stehen.

      Das war er Helena vermutlich schuldig.

      Und Jacques.

      Darum war er Mila gefolgt, als sie und ihre Freundin gestern von Notre-Dame aus in das Quasimodo gegangen waren. Und er war ihnen auch gefolgt, als sie mit der Metro zurück nach Montmartre gefahren waren. Heute Morgen dann hatte er sich früh genug wieder dorthin begeben, um mitzubekommen, wie Mila allein das Haus verlassen hatte. Als er gemerkt hatte, dass sie auf dem Weg zu seinem Bücherstand am Seine-Ufer war, hätte er sich ihr beinahe zu erkennen gegeben, aber er hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht genug Mut dafür gesammelt. Erst eben hier auf dem Friedhof hatte er sich endlich ein Herz gefasst und sie angesprochen.

      Geduldig wartete er nun, bis sie genug Vertrauen fasste, um durch die Pforte zu treten und sich zu ihm zu setzen. »Ich kenne nicht mal Ihren Namen«, murmelte sie.

      Er kam sich vor wie ein Idiot.

      Natürlich! Sie konnte nicht wissen, wer er war. »Mein Name ist Maréchal«, sagte er ein wenig peinlich berührt.

      »Hören Sie, Monsieur Maréchal …«

      »Nur Maréchal«, unterbrach er sie.

      Sie schaute irritiert.

      »Nicht Monsieur. Wir haben mehr gemeinsam, als du dir vorstellen kannst. Du kannst, denke ich, also einfach Maréchal zu mir sagen.«

      »Also gut. Maréchal. Sie … ich meine du …« Sie zog die Hände in die Ärmel ihrer Jacke und das machte sie in seinen Augen sehr zerbrechlich. »Woher kennst du meinen Namen?«, fragte sie.

      All die Dinge, die er wusste, die Dinge über ihre Mutter und ihren Vater, die Dinge, die er seit Jahren tief in seinem Innersten vergraben hatte, drängten nun an die Oberfläche. Er schob sie beiseite und dachte stattdessen an Nicholas.

      Mit der Zungenspitze fuhr er sich über die Lippen. »Dein Name kommt in einer Geschichte vor.« Es war ein unbeholfener Einstieg, aber er wusste es nicht besser. Zwar war er ein Mann der Worte, aber er hatte schon immer besser geschrieben als geredet. Und das hier würde für keinen von ihnen einfach werden.

      »In einer Geschichte?« In Milas Augen kämpfte Skepsis mit einer aufkeimenden Ahnung. Plötzlich wirkte sie noch aufmerksamer und vorsichtiger als zuvor. Und dann verblüffte sie ihn, so wie ihre Mutter ihn früher auch immer verblüfft hatte. Blitzschnell zog sie ihre Schlüsse. »Diese Frage in dem Buch. Sie stammt von Ihn… von dir, oder?«

      Seufzend zog er seine Hosenbeine über den Knien zurecht. »Ja.«

      »Das habe ich mir schon gedacht.« Mila schwieg einige Sekunden. Ihr Blick wanderte zu einem Grab, das direkt nebenan lag. Jemand hatte mit roter Ölkreide ein umgekehrtes Kreuz auf dessen Platte gemalt und einen toten Vogel und einen kleinen Säugetierschädel danebengelegt.

      Satanische Rituale.

      Kinderkram.

      »Was ist die Fabelmacht?«, fragte Mila schließlich.

      Er wappnete sich. »Eine sehr, sehr alte Gabe, die wir besitzen, allerdings nur, solange wir uns hier in Paris aufhalten.«

      »Wir.«

      »Ja. Du. Und ich. Und noch einige andere Menschen in dieser Stadt.« Kurz hielt er die Luft an. »Lass mich versuchen, es dir mit einem Bild zu erklären. Hast du das Buch dabei?«

      Sie bejahte und gab ihm den Gedichtband aus ihrer Tasche.

      Er nahm ihn, schlug ihn auf. »Es verhält sich ungefähr so.« Er umfasste eine der Seiten. »Stell dir vor, das wäre unser Universum.« Er wartete, bis Mila genickt hatte. »Gut. Neben unserem Universum existieren unendlich viele weitere. Ein jedes unterscheidet sich von dem daneben nur durch Kleinigkeiten. Zum Beispiel dadurch, dass du heute Morgen keine Jeans angezogen hast, sondern ein Kleid. Verstanden?«

      »Klar.« Mila öffnete den Mund, um etwas zu fragen, aber ein paar Jugendliche kamen aus einem Gang zwischen den Gräbern und sie unterbrach sich. Die Teenager blieben stehen, berieten sich kurz und trugen etwas in Blätter ein, die sie auf dunkelroten Klemmbrettern bei sich hatten.

      »Wir müssen dann noch nach Oscar Wilde suchen«, hörte er einen schlaksigen hellblonden Jungen sagen, offenbar der Wortführer der Gruppe. »Wer immer das ist.«

      Die anderen lachten und auch über Maréchals Gesicht zuckte ein Lächeln. Er wünschte ihnen, dass sie Wilde lasen. Sie würden es nicht bereuen.

      Lärmend und kichernd vervollständigten die Jungen ihren Eintrag auf dem Klemmbrett.

      Mila starrte sie an dabei, aber es war ihr deutlich anzusehen, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. »Was hat meine Jeans mit dieser … dieser Fabelmacht

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