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      Maréchal seufzte. »Die Fabelmacht befähigt uns, die Welten zu wechseln. Ich könnte zum Beispiel dafür sorgen, dass du jetzt eben keine Jeans anhast, sondern ein Kleid.« Er blätterte die Seite um. »Du musst dir das so vorstellen …«

      »Hey, passen Sie doch auf, Mann!«, scholl der Ruf von einem der Teenager zu ihnen herüber. Die Jungs mit dem Klemmbrett hatten mittlerweile ihren Weg fortgesetzt und waren schon fast zwischen den Gräbern verschwunden. »Sie hätten mich beinahe umgerannt.«

      Doch der hochgewachsene Mann, der sich jetzt zwischen den Jungen hindurchdrängte, ließ sich von der allgemeinen Empörung nicht abhalten. Ohne jede Rücksicht bahnte er sich seinen Weg.

      Und in Maréchals Genick richteten sich die Haare auf.

      Mila entdeckte den Mann in derselben Sekunde wie Maréchal. Und sie spürte augenblicklich, wie der alte Buchhändler sich innerlich anspannte. Der Fremde kam ziemlich zielstrebig auf sie zu marschiert. Er trug Jeans und eine abgewetzte braune Lederjacke und bei seinem Anblick sprang Maréchal auf die Füße.

      Mila stand gleichfalls auf. Die Art, wie der Mann sie ansah, verursachte ihr Magenschmerzen. Umso mehr, als Maréchal sich nun schützend vor sie stellte.

      »Wer ist das?«, fragte sie.

      Maréchal ließ den Mann nicht aus den Augen. »Einer von Villain Caruels Schießhunden«, murmelte er, während der Lederjackentyp auf die offen stehende Pforte im Zaun zuging. Als er die Hand danach ausstreckte, klaffte seine Jacke ein kleines bisschen auf, und Milas Magenschmerzen verzehnfachten sich schlagartig.

      War das etwa eine Pistole, die sie unter seiner Achsel sah?

      Sie wich ein Stück zurück, stieß dabei aber mit der Ferse gegen den Grabmalssockel. Ein dumpfer Schmerz fuhr ihre halbe Wade hinauf. Sie achtete kaum darauf.

      »Was will er?« Plötzlich konnte sie nur noch flüstern. Und eine ganz andere Frage leuchtete in ihrem Kopf auf.

       Wer ist Villain Caruel?

      Maréchal antwortete diesmal nicht. Es war auch nicht nötig, denn der Lederjackentyp gab die Antwort auf die Frage selbst. Er deutete auf Mila.

      »Weg von ihr, alter Mann!«, befahl er.

      Er war ihretwegen hier? Unmöglich, oder? Sie kannte in Paris niemanden außer Isabelle.

      »Vergiss es!« Maréchal schüttelte den Kopf. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und Milas Herz klopfte plötzlich irgendwo ganz oben in der Kehle.

      »Warum sollte ich?« Der Mann hatte militärisch kurz geschnittene Haare, durch die Mila seine Kopfhaut schimmern sehen konnte.

      Ihr wurde noch schlechter, als sie sah, wie er den Reißverschluss seiner Jacke ganz nach unten zog.

      Maréchal schob sie zwei Schritte in Richtung Zaun. »Ich lenke ihn ab«, presste er durch die Lippen. »Wenn ich sage Lauf!, dann kletterst du über den Zaun und rennst weg, so schnell du kannst.«

      Der Kerl war also wirklich hinter ihr her. Die Erkenntnis ließ Adrenalin durch Milas Adern rauschen, ließ ihre Knie zittern, ihre Hände.

      »Wohin soll ich?«, flüsterte sie.

      Leicht geduckt trat Maréchal auf den Mann zu und deckte sie dabei mit seinem Körper. »Eric!«, raunte er. »Der Junge vom Bahnhof. Ihm kannst du vertrauen.«

      Ein überaus irritierender Gedanke streifte Milas Bewusstsein nur ganz kurz, dann wurde er von ihrem Entsetzen überlagert, als der Mann tatsächlich eine Waffe zog.

      »Lauf!«, brüllte Maréchal.

      Mila reagierte augenblicklich. Das Adrenalin gab ihr Kräfte, die sie nie für möglich gehalten hätte. Sie flog um das Grabmal herum, kletterte dann über den Zaun.

      Jemand kam zwischen den Gräbern hervor. Ein weiterer Mann. Eine weitere Lederjacke. Der Mann sah Mila grimmig entgegen.

      Wohin jetzt?

      Sie bog in scharfem Winkel ab, tauchte in das Dämmerlicht zwischen den Gräbern. Der zweite Mann schrie frustriert auf.

      Sie jedoch rannte, so schnell ihre Füße sie trugen.

      Sie jagte die zugewachsenen Wege zwischen den Grabsteinen entlang.

      Prallte gegen jemanden. Mit einem erschrockenen Aufschrei stolperte sie zurück, wurde festgehalten von Händen, die kalt waren, so kalt. Sie keuchte auf, wehrte sich verzweifelt. »Lass mich«, stieß sie hervor.

      »Mila!« Eine dunkle Stimme, die ihr durch und durch ging.

      Nicholas’ Gesicht.

      Ganz dicht vor ihr seine Mitternachtsaugen. Sein Blick fühlte sich an wie eine Ohrfeige. Sie wollte sich losreißen, aber er ließ es nicht zu. Fest gruben sich seine Fingernägel in ihre Schultern, taten ihr weh.

      »Ich tue dir nichts!«, beschwor er sie.

      Ihr Blick zuckte zu dem Grabmal, in dessen Schatten er gestanden hatte.

      Der Name darauf war nicht mehr zu lesen.

      Wo waren ihre Verfolger? Sie mussten doch direkt hinter ihr sein, oder?

      »Lass mich los!« In Nicholas’ Griff warf sie sich herum, schaffte es, sich loszureißen. Er jedoch fasste nach, packte sie erneut.

      »Mila …!«

      Da riss sie den Arm nach oben. Ihr Ellenbogen traf etwas Hartes. Sie hörte ein hässliches Knirschen.

      Nicholas schrie auf. Sein Griff lockerte sich endgültig.

      Und voller Erleichterung rannte sie weiter.

      Nicholas starrte Mila nach, während er gleichzeitig versuchte, das Blut zu stoppen, das ihm aus beiden Nasenlöchern und aus einer Platzwunde an der Unterlippe schoss.

      Luc trat hinter ihn. »Serge hat also tatsächlich seine Männer hierhergeschickt, um Mila zu jagen. Genau wie du gesagt hast.«

      Nicholas legte den Kopf in den Nacken und nahm das Taschentuch, das sein Freund ihm reichte, damit er sich das Blut abwischen konnte. Seine Stimme klang dumpf, als er sagte: »Noch etwas, das wirklich anders läuft.« Er ließ das Taschentuch sinken und grinste. »In meiner Geschichte küssen wir uns hier, statt uns zu schlagen.«

      Luc verdrehte die Augen. »Du wirst noch im Grab einen blöden Scherz machen. Das geht mir langsam auf die Nerven, weißt du das? Gib endlich zu, dass dir der Arsch auf Grundeis geht!«

      Nicholas schüttelte den Kopf. Wenn er das tat, dann konnte er sich gleich eine Schaufel nehmen und sich eingraben. Nein. Wenn er auch nur die geringste Chance haben wollte, dass das Ganze hier noch gut ausging, dann musste er sich verdammt noch mal zusammenreißen.

      »Was jetzt?«, fragte Luc und schaute in die Richtung, in der Mila verschwunden war.

      Nicholas sog prüfend Luft ein. Es ging nicht. Mila hatte ihm die Nase gebrochen.

      »Jetzt muss ich mich erst mal um mein Gesicht kümmern«, sagte er.

      An seinem Handgelenk hatte sich ein neuer blau flammender Buchstabe gebildet.

      Eine weitere Gruppe Teenager mit Klemmbrettern tauchte am Grabmal auf, und das sorgte dafür, dass Milas Angreifer die Waffe in die Jacke schob.

      Maréchal entspannte sich ein wenig.

      »Wohin hast du sie geschickt?«, fragte der Kerl.

      Maréchal schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Er sah dem Mann geradewegs in die Augen bei dieser Lüge.

      Der überlegte. »Dir ist schon klar, dass wir das Mädchen finden werden?«

      Maréchal verschränkte die Arme vor der Brust. »So? Das glaube ich eher nicht.«

      Der Lederjackenkerl lächelte. »Was meinst du, wo sollen wir zuerst nachsehen? In diesem Abbruchhaus in der Rue Bellot? Oder am Gare de l’Est?« Sein Lächeln wurde breiter,

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