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Ich vermisse Achims Wärme neben mir, die Sicherheit, die er mir vermittelt. Ich will, dass mein Kindermädchen mir den Schirm über dem Kopf aufspannt und der Chauffeur jetzt sofort vorfährt, damit das Frieren ein Ende hat und ich zurück in mein Bett komme. Es ist viel zu spät für einen Spaziergang. Morgen werde ich in aller Frühe zum Brunch erwartet. Nicht morgen. Heute. In wenigen Stunden. Die Visagistinnen werden ihre liebe Mühe damit haben, die Augenringe zu kaschieren und mich frisch und ausgeruht wirken zu lassen. Grölend kicken unreife Jungen vor mir Dosen umher, feuern sich gegenseitig an, nur um das Metall mit dem Fuß gegen eine Mauer zu stoßen. Ich schnaube abfällig. Wie ärmlich man sein muss, im Alter von zwanzig Jahren mit einer Dose Ball zu spielen.

      Der Regen wird, wenn möglich, noch stärker und trommelt unnachgiebig auf mich ein. Ich bin durchnässt bis auf die Knochen. Unter der Kapuze des Mantels läuft mir das Wasser die Schultern hinab. Welcher Weg führt nur in mein Apartment? Irgendwo hier … dort … wo? Die Umstände zwingen mich zu erbärmlichen Maßnahmen. Ich berühre den Ärmel eines Mannes, der leere Flaschen und durchweichtes Papier in einen Rucksack stopft. Er stinkt nach verbrannter Vanille und Tabak. „Entschuldigen Sie”, sage ich, „ist Ihnen der Weg zum Clark-Tower bekannt?“ Meine Zunge bewegt sich nur widerwillig. Es ist unsagbar schwer, fragende Worte an jemanden wie ihn zu richten. Jemanden ohne Stil und Klasse. Der Mann blickt auf und schenkt mir ein zahnloses Grinsen, die Zigarre im Mundwinkel klemmend. Sein Gesicht wirkt trocken, unberührt von dem strömenden Regen, der wie ein schützender Vorhang zwischen uns hängt und jedes Geräusch zu tilgen beginnt. Um uns herum herrscht zähe Stille. Als wurde die Zeit für jeden angehalten außer für mich. Und diesen Proleten. „Immer der Nase nach, Kleines.“ Seine Stimme klingt rauchig und verzerrt, uralt. Sein Grinsen wird noch eine Nuance breiter. Ich beiße mir auf die Unterlippe, als er nach der nächsten Flasche greift und sie in seinem Rucksack verschwinden lässt. Nutzloses Pack. Eine Dame steht vor ihm und er bietet ihr nicht einmal den grauen Mantel an. Es ist mir gleichgültig, dass der Gestank sich in dem billigen Stoff eingenistet hat. Das Kleidungsstück scheint warm zu sein und wasserfest. Im Gegensatz zu dem, was ich trage. Der Mann stopft die letzte Flasche hinein, ehe er durch den Regen hindurch verschwindet, ohne sich zu mir umzudrehen. Der dichte Vorhang verschluckt ihn nach wenigen Metern und sperrt mich in meine eigene, durchweichte Welt.

      Ich verfluche den Mann, fröstle schrecklich, während meine Hände langsam taub werden. Ob Achim inzwischen aufgewacht ist und bemerkt hat, dass ich nicht mehr neben ihm liege? Hoffentlich schickt er einen Suchtrupp los, der mich aus dieser Eiseskälte rettet. Die Füße tun weh in den Schuhen und meine Zehen frieren gemeinsam mit den Fingern ab. Resigniert schlinge ich die Arme um mich. Nie wieder. Nie wieder tue ich etwas derart Dummes und Unüberlegtes.

      Unsicher bewege ich mich über den verdreckten Gehweg fort, sehe Valentinohandtaschen in einem Schaufenster rechts von mir, ebenso unerreichbar wie mein Bett. Wenn doch nur der Ladeninhaber noch anwesend wäre. Er würde mich erkennen und mir das Telefon zur Verfügung stellen, damit ich meinen Chauffeur benachrichtigen kann. Bei dem nächsten Schritt stolpere ich restlos erschöpft über meine eigenen Füße und kann mein Gleichgewicht nicht wiederfinden. Der Saum meines Kleides wickelt sich um die hohen Absätze meiner Schuhe und tut sein Übriges. Fluchend falle ich zu Boden. Niemand streckt die Arme nach mir aus, um mich aufzufangen. Nicht einer dreht sich nach mir um. Als wäre ich nichts weiter als ein ungezogenes Gör auf der Straße, das im Schutz der Dunkelheit zu einem ihrer zahlreichen Liebhaber eilt.

      Wasser läuft mir in die Augen und der Gestank von Urin wird derart penetrant, dass ich ihn nicht mehr ignorieren kann. Er übertüncht jeden Gestank von Abgas, Regen und Asphalt. Das stetige Rauschen ebbt ab. Finsternis. Mein Herz stolpert entsetzt. Ist der Strom ausgefallen? Ein Grölen zu meiner Rechten lässt mich herumzucken. Neben mir steht ein Haus, an das ich mich nicht erinnern kann, klein und brüchig. Es wirkt gänzlich fehl am Platz. Warmes, flackerndes Licht kommt aus seinem Inneren und trunkene Schemen tanzen vor seinen Fenstern. Ich schlinge die Arme fester um mich und stehe auf, nur um in der nächsten Sekunde erneut umzuknicken. Panik steigt in mir auf. Das sind Kopfsteinpflaster. Und… kleben an meinen Händen Fäkalien? Ich hebe sie zu meinem Gesicht und würge. Selbst in der Dunkelheit kann ich die widerwärtig stinkenden Flecken auf dem teuren Stoff meines Kleides ausmachen, das wie eine zweite Haut an mir klebt. In der Ferne schlägt eine Uhr, gefolgt von einem unbarmherzigen Donnern. Eine Turmuhr? Nichts erinnert an die hellerleuchtete Straße, durch die ich vor wenigen Wimpernschlägen noch irrte. Der Regen ist versiegt und keine Wolke bedeckt den Himmel. Unzählige Sterne, viel mehr, als ich je zuvor in meinem Leben gesehen habe, hängen am Zelt über mir und funkeln weiß wie kostbarste Diamanten. Sie sind die einzigen Lichtquellen neben dem einsamen Haus, in dessen Inneren die Proleten sich betrinken und ihren letzten Anstand vergessen.

      Hinter mir ein leises Keuchen. Ich drehe mich um. Schemenhaft steht dort ein Mensch, erleuchtet von den Lampen des schäbigen Gebäudes, und deutet unanständig mit nacktem Finger auf mich. „Eyne Hex“, japst er. Irritiert lege ich die Stirn in Falten. Aus dem Haus strömen nach und nach die Besucher, Grölen brüllt und vereinzelte Schreie erklingen. Weibliche Schreie? Meine Muskeln verspannen sich. Die Frauen wirken, als hätten sie Schmerzen. Brodelnde Hitze strömt durch meine Adern. Das Gefühl ist mir bekannt. Es kommt auf, wann immer ich in bedeutenden Verhandlungen vor einem Scheidepunkt stehe, unsicher welcher Weg der Richtige ist. Wann immer diese glühende Wärme durch meinen Körper schießt, gibt es nur eine Antwort darauf: Fassung. Ich straffe die Schultern und recke das Kinn in die Höhe. Wo ist Achim? Ich brauche ihn hier, neben mir, an meiner Seite. Oder einen Butler oder meinen Chauffeur, irgendwen, der sich zwischen mich und diese Meute stellen könnte. Betteln die Frauen? Der Mann vor mir und ich taxieren uns, beide angespannt schweigend, er noch immer mit dem Finger auf mich deutend.

      „Eyne Hex!“ Sein Ruf kommt plötzlich und hallt überlaut durch die Nacht. Ich zucke zusammen, während er sich aus seiner Starre löst und auf mich zukommt. Reflexartig mache ich einen Schritt zurück und bleibe mit dem centgroßen Absatz zwischen zwei Steinen hängen.

      Ich unterdrücke den Impuls, kopflos davonzulaufen. Ich habe keinen Grund, ihn zu fürchten. Er ist nichts weiter als ungehobeltes Pack. Er wird es nicht wagen, mich anzurühren. Und wenn doch, kostete es ihn seine Zukunft.

      Das Schreien, das Kreischen der Frauen will nicht verstummen. Schnelle Schritte nähern sich uns, während ich die Arme vor der Brust verschränke. „Halten Sie Abstand oder ich schalte meinen Anwalt ein.“ Der Mensch, der Mann, tritt in den Lichtkegel, der durch die Fenster auf die brüchige Straße fällt. Dreckige Schlieren ziehen sich über sein vernarbtes Gesicht. Seine Augen zucken unruhig. Nicht eine Sekunde fokussiert er sich. Die Turmuhr schlägt noch immer ihren Takt. Diese skurrile Situation senkt sich wie ein erstickendes Tuch über mich. Mein Kopf ist wie leergefegt. Achim? Mutter? Mein Sicherheitspersonal? „Eyne Hex“, wiederholt der Prolet und schaut an mir vorbei. Mein Kopf zuckt herum. Zwei weitere Männer. Ich will entsetzt aufschreien. Wo befinden sich die Sicherheitsleute, wenn man ein einziges Mal ihre Anwesenheit benötigt?

      Einer der zwei Schatten hinter mir kichert dunkel. Die Schreie der Frauen werden lauter, ihr Flehen, das ich größtenteils nicht verstehe. Sie sprechen keine Sprache, die mir geläufig ist. Fast könnte man meinen, es wäre Deutsch, aber ihre Aussprache klingt derart verzerrt und verfälscht, dass es ebenso gut jede andere Sprache oder Mundart sein könnte. „Brenn soll de Hex“, zischt er. „Teufelsbrut.“ Er macht Anstalten mich mit seinen dreckigen, schwieligen Fingern zu berühren. Die Nägel sind rissig und ihm fehlt die Hälfte seiner Zähne. Er ist das Abstoßendste, was mir jemals begegnet ist. Abschaum, ohne Frage. Abschaum, der sich vor mir aufbaut und mich in die Enge treibt.

      Angst erwacht lediglich, wenn ich Schwäche zulasse. Rücksichtslos schlage ich seine Hand weg. „Sollten Sie mich anrühren, werde ich Sie wegen Körperverletzung und sexueller Belästigung verklagen.“ Der ungehobelte Angreifer scheint wenig beeindruckt. Versteht er mich überhaupt? Der erste Mann versucht sich ebenfalls an diesem Abklatsch des Deutschen, das mein Hauslehrer mir über Jahre versuchte nahezubringen. Was suchen Menschen wie diese beiden in New York City? Ein weiterer Schritt auf mich zu. Er umfasst meine Oberarme mit seinen schmierigen, stinkenden Fingern. Viel zu fest. Jedes Härchen auf meinem Körper stellt sich auf. „Lassen Sie mich los!“, befehle ich auf Deutsch. Nichts scheint zu dem Mann durchzudringen. Als wäre

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