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wie sie die Gelbe Tonne zurück in unsere Umfriedung brachte. Das tat sie oft, weil sie früh wach wurde durch das Geräusch der Müllabfuhr und nicht mehr schlafen konnte. Ich wollte mich bedanken, und einige Tage später stand ich mit einer Packung Palinés vor ihrer Haustür.

      Sie öffnete in einem geblümten Kleid. Ich glaube, sie war irritiert, mich zu sehen. Vielleicht war sie es nicht gewohnt, Besuch zu bekommen. Artig bedankte ich mich für ihre Hilfe mit der Mülltonne und überreichte ihr mein Präsent. Auf eine gute Nachbarschaft! Sie freute sich und lud mich auf einen Kaffee ein.

      Wir verstanden uns auf Anhieb. Sie war Anfang siebzig und hatte viel erlebt. Sie erzählte mir, dass sie dreimal verheiratet gewesen war, der erste Mann war Engländer gewesen und hatte bei einem Sondereinsatzkommando gearbeitet. Wahrheit hin oder her, sie behauptete, sie hätte sich scheiden lassen wegen der Traumata, die ihr Mann erlitten hätte. Da wäre mit ihm nicht mehr gut Kirschen essen gewesen. „Gut Kirschen essen“ – so sagte sie das, und ich sagte es später der Polizei.

      Von vornherein stellte sie klar, dass sie Kinder nicht mochte. Aber solange ich schwanger sei, könne ich gerne auf einen Kaffee vorbeikommen. Nur, wenn das Kind geboren sei, solle ich darauf Rücksicht nehmen, dass sie, als eine alte Frau, ihre Ruhe haben wolle. Ich stellte das nicht infrage.

      Ihr Charisma faszinierte mich. Schnell wurden wir Freundinnen. Sie führte mich durch ihr Haus, zeigte mir das Dachgeschoss, das zu einem Wohn- und Fernsehzimmer ausgebaut worden war, und den ersten Stock des Gebäudes. Ihr Haus war anders geschnitten als unseres, da es an der Ecke zur Straße lag.

      Sie fragte mich, ob ich mich eingelebt hätte. Und wie es meinem Mann ginge, sie hätte festgestellt, dass er zurzeit recht spät nach Hause käme. Sie würde die Leute nicht beobachten, wirklich nicht, aber die Fenster in der Küche verliefen zur Garage hinaus und da bekäme man einfach alles mit, ganz automatisch.

      Ich glaube, sie ahnte es. Sie hatte einen untrüglichen Instinkt, nicht umsonst blieb sie so viele Jahre unentdeckt.

      Trotzdem machte sie ein überraschtes Gesicht, als ich erklärte, dass mir die Affäre meines Mannes egal war. Sie fragte, weshalb, ob ich ihn nicht lieben würde und warum ich dann ein Kind von ihm bekäme, aber ich entgegnete, das sei ja nur vorübergehend. Er hätte die Torschlusspanik, das könne man schon verstehen. „Ein Kind ist für ihn wie der letzte Nagel im Sarg.“ Während wir sprachen, saßen wir auf der Terrasse und blickten auf ihre Tulpen, die mit den Köpfen fröhlich zum Takt der Frühlingsbrise wippten. „Aber Karl“, verkündete ich, „kriegt sich schon wieder ein. Die Zeit arbeitet für die Ehefrau. Immer.“

      Jene Aussage, so vermutet die Polizei, hatte wahrscheinlich den Ausschlag gegeben. Uta lud mich ein, mit in den Keller zu kommen, sie müsse noch den Trockner leeren. Bei dieser Gelegenheit zeigte sie mir die Gräber.

       Funda Agirbas

       Berlin. Winter. Der Tod und die Autobahn.

       Auszug aus dem Dazwischen.

      Du spürst den bebenden Asphalt unter deinen Sohlen. Die Vibration fährt wummernd durch deinen Körper. Der Himmel ist perlgrau und manchmal aufgepflügt vom dunkler werdenden Licht. Der Nieselregen verdichtet sich. Prasselt konsequent auf dich nieder. Deine Klamotten sind durchnässt. Deine Sicht ist verschwommen. Das Heulen der Sirenen pulsiert in deinen Ohren. Langgezogenes Hupen korreliert mit deiner dumpfen Wahrnehmung. Es blitzt. Du weißt, du bist in Gefahr. Du weißt, es ist unmöglich. Du teilst die Wut auf deine Person. Du läufst weiter. Schritt für Schritt. Immer weiter. Du hast keine Wahl, stehen bleiben kannst du nicht. Das Grollen der Motoren paart sich mit dem wütenden Wind und wirbelt wie wahnsinnig um dein Sein, während du wie im Auge des Tornados die Windstille seines Lächelns fokussierst. Du dimmst die Geräuschkulisse um dich herum. Du verschwindest nach und nach. Fast bist du unsichtbar. Fast hast du es geschafft. Dann versinkst du in deine Welt und stellst deinen Körper auf Autopilot.

      Du kehrst zurück zu jenen Tagen. Zurück. Du musst Ordnung schaffen. Du fängst ganz von vorne an. Du hast deinen Job geschmissen, hast keinen Auftrag, hängst ziemlich in der Luft. Die Versicherung läuft aus und du hast keine Ahnung, wie du nächsten Monat die Miete zahlen sollst. Dein Vater hat Krebs. Dein Ex droht mit Suizid. Du schickst ihn zur Hölle, woraufhin die Hölle ausbricht. Genau dann stirbt dein Vater. Du hast ihn das letzte Mal vor 5 Tagen gesehen. Du warst zu beschäftigt, um vorbeizuschauen. Mit suizidal belasteten Post-Beziehungs-Problemen. Mit Sorgen um die Zukunft. Mit Versicherungsfragen. Er stirbt um 05.35 Uhr am Freitag. Du bist bereits seit 05.00 Uhr wach. Du könntest anrufen, aber du denkst nicht einmal dran. Dein Ex ist furchtbar betroffen. Alle sind furchtbar betroffen. Verständnis wird dir entgegengebracht und seien es noch so hilflose Beileidsbekundungen, sie tun gut. Du saugst sie auf. Eine nach der anderen. Du willst, dass es alle wissen. Am liebsten hättest du es in den 20.15 Nachrichten gebracht. Stattdessen postet du ein Bild auf Facebook. Du weißt gar nicht warum. Du hast einfach nur das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Ohne zu reden. Du kannst nicht reden. Du willst, aber du kannst es nicht. Weil du nicht weißt, was geschieht. Weil du nicht weißt, wie es dir geht. Weil der einzige der dir helfen könnte dein lebendiger Vater ist. Ein bodenloses Loch hat sich aufgetan und du fällst.

      Fällst bis das Fallen ein Normalzustand wird.

      Sie haben alle Verständnis. Es hagelt plötzlich Aufträge. Du fragst dich, ob dein Vater nachgeholfen hat. Du schimpfst dich sentimental. Du hast Geld. Du denkst dir, du solltest zufrieden sein. Du hast eine Sorge weniger, aber nichts wird leichter. Bei der Arbeit wird besonders Rücksicht genommen, das Honorar fällt üppiger aus, die Fristen werden geschoben, aber du willst gar nicht ruhen. Du arbeitest unentwegt, jeden Tag, den ganzen Tag. Du schläfst nicht. Du nickst immer nur kurz ein. Du kannst dir das Gesicht deines Vaters nicht vor Augen rufen. Es ist unmöglich. Du bekommst es einfach nicht hin. Du nimmst Schlaftabletten. Du kiffst. Du trinkst. Du schläfst dennoch nicht. Deine Restfamilie fängt dich auf. Deine Freunde verzeihen dir unentwegt. Alle verstehen. Keiner versteht. Ein paar Wochen. Dann geht das Leben weiter. Du denkst, das ist ganz normal. Natürlich geht das Leben weiter. Du glaubst, sie haben Recht. Die Ersten fangen an dich zu fragen warum, wenn du sagst, dass es dir schlecht geht. Du bekommst das Gefühl nicht richtig zu sein. Dein Ex droht wieder mit Suizid. Du denkst, das Leben geht weiter. Die Kollegen sind nicht mehr so nett und die Fristen wieder da. Du denkst, das ist legitim und wunderst dich, dass du nicht mithalten kannst.

      Dann bist du allein. Richtig allein. Du hast das Gefühl, die Berechtigung für deinen Zustand zu verlieren. Du stehst in der Kreide. Du hinkst hinterher. Du nimmst Schlaftabletten. Du kiffst. Du trinkst. Du schläfst nicht. Du weißt nicht mehr, was normal ist. Du befürchtest, du bist abgerutscht, fragst dich, wohin du rutschst. Und das Leben geht einfach weiter. Du fragst dich, ob du mal wusstest, was normal ist. Du versuchst dich zu erinnern. Der Tod gehört zu uns, wie das Leben selbst. Du sagst dir, dass es keinen Sinn macht, so traurig zu sein. Wenn es denn Trauer genannt werden kann, du weißt einfach nicht was das ist, was du fühlst. Du weißt nur, du bist allein. Allein auf eine Art, wie das Wort alleine es nicht fassen kann. Du betrittst Neuland. Nichts ist dir bekannt. Du und du, wie du es zuvor niemals warst. Niemand sonst. Weil keiner sehen kann, weil du nicht sehen kannst und dennoch alles siehst. Weil es für den Tod keine Worte gibt. Du denkst, du kannst nicht fassen. Du denkst, das ist alles viel zu groß. Du wusstest, dass kein Mensch den anderen wirklich verstehen kann. Und dass es mindestens so viele Welten gibt, wie Leben auf der Erde. Du wusstest es nicht. Du wusstest, dass das Leben endlich ist. Du hattest keine Ahnung, dass das Leben endlich ist. Du weißt, dass man sich bestenfalls von weitem grüßen kann. Du hattest einfach keine Ahnung. Dann siehst du klar. Bizarr klar. Lebenskummer. Ent-Täuschung.

      Du verachtest das Sein.

      Du lechzt zu sein.

      Du hasst deine Erkenntnis. Du stellst sie in Frage. Du schreibst es den Umständen zu. Du bekommst das Gefühl, nicht mehr zu können. Wirklich nicht mehr zu können. Und du machst trotzdem weiter. Du willst weg. Von allem. Von jedem. Von dir. Und hin. Zu allem. Zu jedem. Zu dir. Das Leben geht weiter und deine Restfamilie schafft es mitzuziehen. Sie können dich nicht mehr sehen. Du stehst direkt neben ihnen und sie können dich nicht sehen. Du weißt, du bist im Unrecht. Du weißt, sie könnten

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