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keine Erfahrungen mit Bären haben, würden auf eine nahe Begegnung mit so einem Tier sicher mit gewaltigem Stress bis hin zu einer Angstreaktion reagieren.

      Es ist wichtig, dass diese subjektiven Reaktionen völlig unterschiedlich ausfallen können, denn noch heute müssen sich manche Menschen eine zu hohe Sensibilität vorwerfen oder gar sagen lassen, dass sie sich nur anstellen würden. Angst ist kaum kognitiv, also rein verstandesmäßig zu kontrollieren. Wenn überhaupt, dann nur für sehr kurze Zeit. Gefühle und Emotionen sind Teil unseres evolutionären Erbes und nicht rational beherrschbar, auch wenn viele Leute dies noch glauben mögen.

      Alle Gefühle finden also in diesem Toleranzfenster statt, manchmal bewegen wir uns in der Mitte, manchmal am oberen Ende, weil wir verliebt sind oder wütend. Manches Mal bewegen wir uns auch im unteren Bereich, wenn wir erschöpft, emotional ausgelaugt sind oder uns alles zu viel ist.

      Doch all diese Zustände lösen noch nicht einen der oben genannten Reflexe aus. Erst wenn wir uns ohnmächtig, bedroht und vollkommen überfordert fühlen, wird unser Körper in eines der Überlebensmuster wechseln.

      In einem solchen Fall schießt der Sympathikus in seiner Reaktion über das Toleranzfenster hinaus, und es werden die Reaktionen Flucht oder Kampf ausgelöst. Ab diesem Augenblick geschehen im Körper eine Menge Dinge gleichzeitig. In Millisekunden ist der Körper kampf- oder fluchtbereit.

      Doch wer entscheidet eigentlich, welche dieser beiden Möglichkeiten wir aktivieren?

      Man weiß heute, dass unser Gehirn aus zusammengesetzten Teilen besteht. Man spricht vom dreieinigen Gehirn. Das bedeutet, dass sich im Laufe unserer Evolutionsgeschichte das Gehirn nicht gleichmäßig fortentwickelt hat, sondern es Entwicklungssprünge gab, bei denen ältere Hirnteile beibehalten wurden und sich die neuen darauf aufgesetzt (»gestapelt«) haben.

      Für unser Leben hat dies einen recht tief greifenden Einfluss, und es erklärt einige der Dinge und Verhaltensweisen, an denen wir im Alltag oft verzweifeln.

      Das Stammhirn

      Der älteste Hirnteil ist das sogenannte Stammhirn oder auch Reptilienhirn. Der Name deutet schon darauf hin, dass dieser Teil unseres Gehirns mit dem von Reptilien übereinstimmt. Es ist für alle Funktionen im Körper zuständig, die wir nicht bewusst steuern können. Das bedeutet, alle Überlebensreflexe, Atmung, der Schlaf-Wach-Rhythmus, Hunger und Durst, nicht bewusst gesteuerte Bewegungsabläufe (Kleinhirn) und alle Instinkte und Reflexe werden von hier aus gelenkt.

      Das limbische System

      Später kam der Entwicklungsschub hin zu den Säugetieren und damit zum limbischen System oder emotionalen Gehirn. Hier werden unsere Emotionen gebildet und gesteuert. Das limbische System ist sehr eng mit dem Stammhirn verbunden.

      Es ist auch für die Bildung von Erinnerungen zuständig. Diesen Teil des limbischen Systems nennt man den Hippocampus. Hier speichern wir unsere Autobiografie, Erinnerungen und Lebensereignisse. Hieraus wird auch klar, dass Ereignisse nur dann eine Bedeutung bekommen und damit gespeichert und zu einer Erinnerung werden können, wenn sie einen emotionalen Gehalt aufweisen. Das erklärt, warum du dich so schlecht daran erinnern kannst, was du vor drei Tagen gegessen oder überhaupt den ganzen Tag gemacht hast. Du wirst dich nur an die Teile erinnern, die eine emotionale Bedeutung für dich hatten.

      Daraus folgt leider auch, dass beängstigende und überwältigende Ereignisse besonders gut gespeichert werden und damit eine Bedeutung erhalten, über die wir uns nicht im Geringsten im Klaren sind, die uns aber immens beeinflusst.

      Der Neokortex

      Als jüngste Entwicklung hat sich der Neokortex gebildet. Dies ist der Hirnteil, mit dem wir Menschen uns am stärksten identifizieren. Hier ist der Sitz der Rationalität, des Denkens, der Vorstellung und Fantasie, des Abstraktionsvermögens, aber auch der Sprache und gesellschaftlicher Normen und Werte.

      Der Neokortex macht uns zu Menschen. Er beherbergt unsere Empathie, Moral, die emotionale Regulation und fast alle weiter vorn aufgezählten Fähigkeiten!

      Dieser Teil des Gehirns wirkt integrativ und verbindet das limbische System, Informationen aus dem Körper und dem Stammhirn und die Informationen des präfrontalen Kortex (Stirnhirn) miteinander. Je integrierter der Neokortex ist, desto integrierter und zufriedener sind wir.

      Das Problem ist nun, dass die Hirnteile aufgrund der evolutionären Entwicklung auch unabhängig voneinander agieren können.

      Im Falle einer Gefahr leitet das Stammhirn die Reaktion auf die Bedrohung ein, und zwar noch bevor der Verstand diese vollkommen verarbeitet hat. Im Gehirn gibt es einen langen und einen kurzen Reaktionsweg, was dazu führt, dass wir des Öfteren handeln, ohne uns genau überlegt zu haben, ob unsere Reaktion sinnvoll und adäquat ist. Je enger dein Toleranzfenster ist, desto häufiger wirst du auf einen Reiz reagieren, ohne reflektiert zu haben, ob die Reaktion angemessen ist.

      In einer lebensgefährlichen Situation rettet uns diese Teilautonomie des Stammhirns jedoch das Leben. Würde der Körper auf das sorgfältige Abwägen und anschließende Suchen einer guten Lösung vom Verstand (Neokortex) warten, wären wir alle längst tot!

      VERSTAND GEGEN INSTINKT

      Im Alltagsleben erklärt diese Uneinigkeit des Gehirns jedoch viele uns selbst unverständliche Verhaltensweisen, für die wir uns oft nicht mögen. Dazu gehört beispielsweise der große Unterschied zwischen dem Wissen über eine Tatsache und dem tatsächlichen Verhalten. Bei vielen Menschen hat das eine sehr wenig mit dem anderen zu tun.

      Ich weiß zum Beispiel, dass Schokolade nicht gut für mich ist – aber ich esse sie trotzdem. Ich weiß, dass ich mehr Sport treiben sollte (das Wort »sollte« ist übrigens ein sehr guter Anzeiger dafür, dass etwas sehr wahrscheinlich nicht geschehen wird), aber irgendwie gelingt es mir nicht, es umzusetzen, weil es auf der Couch gemütlicher ist. Ich weiß, dass die Umwelt durch die Art, wie wir leben, schwer belastet wird, aber ich genieße trotzdem den Flug nach Mallorca.

      Ich weiß, dass bestimmte Ereignisse in meiner Geschichte verantwortlich dafür sind, dass ich mich heute so fühle, wie ich mich fühle – aber das ändert nichts.

      Bottom-up

      Verstandesmäßiges Wissen hat nichts mit dem emotionalen und körperlichen Begreifen von etwas zu tun. Die meisten Prozesse in unserem Leben sind sogenannte Bottom-up-Prozesse, das heißt, wir werden viel mehr von Emotionen und Instinkten gesteuert, als wir es wahrhaben möchten. Die Neurowissenschaften finden zunehmend Belege dafür, dass wir rational nur auf sehr wenige Prozesse Zugriff haben. Wir rationalisieren unser Verhalten zwar – erklären es also im Nachhinein –, aber wir können es nicht rational steuern. Bei traumatischen Erinnerungen oder in Angstsituationen spricht man sogar von einem Bottom-up-Highjacking, einer Entführung der verstandesmäßigen Prozesse, durch die tiefer liegenden Hirnregionen.

      Top-down

      Sind wir ruhig und entspannt, so haben wir die Möglichkeit, sogenannte Top-down-Prozesse über den Verstand zu initiieren, dabei lenken wir unser Verhalten bewusst. Alle Prozesse, die wir durch Willenskraft steuern, gehören dazu. Leider nützt uns diese Steuerung oft nur kurzfristig.

      Stell dir die Willenskraft wie einen Muskel vor, der, je mehr du ihn beanspruchst, umso schneller ermüdet. Spätestens dann sind wir wieder unseren Emotionen und Instinkten ausgesetzt und tun erneut Dinge, die wir eigentlich nicht mehr tun wollten. Damit ist die anfängliche Frage beantwortet, wer zwischen den Reaktionen von Kampf und Flucht entscheidet. Es ist das Stammhirn, und zwar ohne Rücksprache mit dem Verstand.

      Ab nach unten – erstarren oder tot stellen

      Nun gibt es Situationen, denen Menschen nicht durch Flucht oder Kampf entkommen können. In diesem Fall gibt es eine weitere instinktive Reaktionsmöglichkeit: das Erstarren.

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