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etwas dafür tun, dass Berührung normaler wird und nichts mit Sexualität zu tun hat. Je unbefangener wir mit Berührung, In-den-Arm-Nehmen und Händchenhalten umgehen, desto üblicher wird es auch in unserem Umfeld. Wir alle leiden inzwischen unter Kontakt- und Berührungsarmut, und das wirkt sich grundlegend auf unsere Stimmung aus.

      NERVENSACHEN

      Schauen wir uns also genauer an, was Selbstregulation ist und was sie für unser Leben bedeutet. Es kann sein, dass du in diesem Kapitel Antworten für Verhaltensweisen von dir findest, die du dir bisher nicht erklären konntest.

      Die Fähigkeit zur Selbstregulation bedeutet, wie gesagt, dass wir uns und unsere Emotionen gut steuern können. Man könnte sagen, es gibt ein inneres Thermometer, das zu kalt und zu heiß sein kann. Am wohlsten fühlen wir uns, wenn wir »wohltemperiert« und in der Lage sind, uns in diesem »grünen« Bereich zu halten.

      Hast du zum Beispiel als Kind großen Stress, häufige Überforderung und wenig liebevolle Zuwendung erlebt, so konntest du die Fähigkeit, dich gut zu regulieren, nur ungenügend ausbilden. Dies führt später zu einer geringen Stresstoleranz und schneller Überforderung im Alltag. Die andere Auswirkung kann sein, dass du sehr tief im Funktionsmodus steckst, in dem du zwar den Alltag bewältigst, dich aber wenig lebendig fühlst und auch kaum tiefe Verbindungen eingehen kannst – weder mit dir selbst noch mit anderen Menschen.

      Um zu verstehen, wie Selbstregulation funktioniert, müssen wir einen kurzen Ausflug zu unserem Nervensystem machen.

      Das autonome Nervensystem (ANS) gliedert sich in den parasympathischen und den sympathischen Zweig. Diese beiden Zweige erfüllen höchst unterschiedliche Aufgaben in unserem Körper. Sie regulieren ständig den Grad unserer Erregung. Dabei ist der Parasympathikus für den beruhigenden Teil zuständig. Er dämpft und entspannt uns sozusagen.

      Der sympathische Zweig steuert die Steigerung von Erregung. Er reguliert also die Erregung nach oben. Der Sympathikus ist in jeder Form von Erregung involviert, sowohl in seiner negativen als auch in seiner positiven Auswirkung. Das heißt, er ist bei Freude, Neugier, Sexualität oder Sport aktiviert, aber durch eine Übererregung ist er auch für Stress und Burn-out verantwortlich.

      Die beiden Zweige arbeiten hauptsächlich antagonistisch zueinander, das heißt, wenn der eine Zweig aktiviert ist, ist der andere gedämpft. Beide Zweige innervieren (aktivieren) verschiedene innere Organe und sorgen dafür, dass diese ihre Arbeit optimal verrichten können. Dabei ist der Parasympathikus, der auch Vagusnerv genannt wird, sehr eng mit dem Darm verknüpft. Deshalb kannst du meist hören, wenn du dich entspannst – es entstehen Darmgeräusche wie Gluckern und Glucksen. Ein gutes Zeichen!

      Die beiden Zweige des ANS arbeiten den ganzen Tag harmonisch zusammen. Es stellt sich dar wie eine Wellenbewegung.

      UNSER SEELISCHER RAHMEN – DAS TOLERANZFENSTER

      Diese Wellenbewegung verläuft bei allen Menschen innerhalb bestimmter Grenzen. Das heißt, jeder Einzelne hat dafür ein bestimmtes Fenster zur Verfügung, das sogenannte Window of Tolerance. Es hat einen zentralen Einfluss auf unser Leben, unser Wohlbefinden und unsere Zufriedenheit. Deshalb ist es mir sehr wichtig, dass du dieses Konzept verstehst und auf dich und andere Menschen anwenden kannst. Die Öffnung dieses Fensters scheint zu einem Teil genetisch vorgegeben zu sein. Zum größeren Teil entwickelt sich die Weite durch die Qualität der Bindung und Co-Regulation, die wir in den ersten drei Lebensjahren durch unsere engsten Bezugspersonen erfahren haben. Ein weiterer Faktor ist die Geburt selbst, die schon eine bleibende Wirkung auf die Ausdehnung des Toleranzfensters und damit auf die Stressresistenz eines Menschen hat.

      Die Weite des Fensters gibt vor, wie viel Erregung wir im Guten wie im Schlechten tolerieren können, ohne überfordert und gestresst zu sein! Vielleicht kennst du Menschen, die enorm viel Stress aushalten können, ohne dadurch aus dem Gleichgewicht zu kommen. Diese Menschen haben ein weites Toleranzfenster und können dadurch ein hohes Maß an Erregung in sich halten, ohne »aus dem Rahmen zu fallen«.

      Doch das Toleranzfenster ist nicht nur für Stressresistenz wichtig, es gibt auch vor, wie viel Freude und Glück ein Mensch in sich halten kann. Denn – ob du es glaubst oder nicht – Freude und Glücklichsein stellen für das Nervensystem einen recht anstrengenden Zustand dar, der viel schwerer über einen längeren Zeitraum auszuhalten ist als Frustration.

      Das ist kaum zu glauben, doch stell dir einmal kurz vor, wie es ist oder war, total verliebt zu sein. Vollkommen und bis über beide Ohren, besinnungslos besessen. Und dann stell dir vor, dieser Zustand würde ein Jahr anhalten oder zwei Jahre. Wie würdest du dich dann fühlen? Abgesehen davon, dass du vermutlich arbeitslos und halb verhungert wärst, würdest du einem koksenden Süchtigen gleichen.

      Dagegen ist es leicht, ein oder zwei Jahre in gedämpfter Frustration zu leben. Die Zeit zieht dann einfach vorbei und hinterlässt kaum Spuren. Ich sage nicht, dass es schön ist, es ist nur ein Zustand, der für uns sehr einfach ist, da es kaum Ausschläge nach oben oder unten gibt. Viele Menschen haben sich in diesem funktionalen Bereich eingerichtet und wissen gar nicht, dass es noch etwas anderes gibt.

      Jede Form von Leidenschaft oder Begeisterung findet innerhalb deines Toleranzfensters statt, und seine Weite gibt vor, wie viel Leidenschaft oder Begeisterung du erleben kannst. Es macht also einen riesigen, kaum zu beschreibenden Unterschied für dein Leben aus, wie weit dieses Fenster ist. Zum Glück ist es nicht statisch gleichbleibend für jede Lebenslage. Wir können zum Beispiel für Liebeskummer ein großes Fenster haben und fürs Verliebtsein ein kleines oder umgekehrt. Manche Menschen tragen ein hohes Maß an Begeisterung in sich und können es halten, aber bei Beziehungskonflikten kollabieren sie regelmäßig.

       Finde heraus, wo deine Stärken liegen und wo du glaubst, dass du keine hohe Toleranzschwelle hast. Dann frag deine Freunde, ob deine Selbsteinschätzung stimmt.

       Wie glücklich kannst du sein?

       Wie viel Glück und Begeisterung erlebst du in deinem Alltag?

      WIE WIR AUF STRESS REAGIEREN – DIE ÜBERLEBENSMUSTER

      Es gibt eine Begrenzung für das Toleranzfenster. Und zwar deswegen, weil in unserem Leben manchmal Situationen auftauchen, mit denen wir nicht mehr adäquat umgehen können. Das heißt, wir fühlen uns überfordert, können nicht mehr vernünftig reagieren oder sind gar überwältigt. Unsere Bewältigungssysteme – oder auch Copingsysteme (von engl. to cope, bewältigen) – sind völlig überlastet.

      Wir reagieren auf übermäßigen Stress, der dann als Angst empfunden wird, mit drei, eigentlich vier evolutionären Reaktionsmustern:

       Kampf

       Flucht

       Erstarrung

       Totstellreflex

      Leider werden diese Stressreaktionen bei den meisten Menschen in unserer Gesellschaft lediglich als eine Reaktion auf Todesgefahr gesehen. Durch diese eingeschränkte Sichtweise ist den meisten nicht klar, dass diese reflexhaften Reaktionen viel häufiger in uns ablaufen, als uns bewusst ist, nämlich dann, wenn in einer für uns als stressig empfundenen Situation Adrenalin ausgeschüttet wird.

      Stress und als Steigerung Angst sind hochsubjektive Ereignisse. Das, was der einen Person Angst macht, lässt eine andere vollkommen kalt.

      Die Schwelle der Überforderung hängt sehr stark davon ab, wie ein Mensch Ereignisse für sich interpretiert, also in welchem Licht sie ihm oder ihr erscheinen. Dies ist nicht unbedingt ein bewusster Prozess, aber ein sehr beständiger in seiner Qualität. Er beruht wiederum darauf, welche Verhaltensmuster Menschen in ihrer frühen Kindheit gebildet haben, welche Erfahrungen sie später machten und wie sehr sie sich zutrauen, auch schwierige Situationen zu meistern.

      Stell dir einmal vor, ein kanadischer Ranger begegnet einem Grizzlybären. Für den Ranger ist es vermutlich nicht das erste Mal, und er weiß, wie er sich zu verhalten hat. Wahrscheinlich

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