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      Ich möchte gern, dass du dich einmal fragst, was echtes Lebensglück für dich ist. Was müsste in deinem Leben sein, was müsste passieren, damit du sagen würdest (über längere Zeit und nicht nur einen Moment): »Ich fühle Lebensglück, Erfüllung und Lebendigkeit.«

      Ein erfülltes Leben beruht auf unseren Fähigkeiten und nicht so sehr auf dem, was uns gerade passiert. Dieses Set an Fähigkeiten führt dazu, dass wir unser Leben gestalten und genießen können. Es führt dazu, dass wir uns selbst genießen und erfüllende Kontakte mit anderen Menschen erleben können.

       Ginge es allein um Erkenntnis, wären wir alle kurz vor der Erleuchtung.

      Das Problem dabei ist, dass diese Fähigkeiten aufeinander aufbauen. Die meisten von ihnen kennst du, und du hast dich wahrscheinlich sogar schon mit ihnen beschäftigt. Es kann sein, dass du einige Dinge sogar für dein Leben übernommen hast. Es kann aber auch sein, dass du bei Weitem noch nicht so zufrieden bist, wie du es gerne wärst. (Sonst hättest du dieses Buch ja auch nicht in die Hand genommen.) Das liegt nicht daran, dass du unfähig bist oder einfach nicht lernfähig, sondern daran, dass du etwas lernen wolltest (weil du einen Schmerz lindern wolltest), wofür dir die Grundlage gefehlt hat. Es ist ein bisschen so, als würdest du dich für das Cambridge-Business-Certificate in Englisch anmelden, allerdings nur Schulenglisch beherrschen.

      Das sind die Gründe, weshalb wir letztlich immer wieder in unsere alten Verhaltensweisen und Lebensmuster zurückfallen und frustriert sind über uns.

      Ein Beispiel, das viele von uns kennen, ist das Thema gesünder essen und abnehmen. Eigentlich ist es ganz einfach: Man lässt einfach bestimmte Lebensmittel weg und isst weniger. Dann noch ein bisschen Intervallfasten und ein wenig Bewegung – und schon erreicht man das Ergebnis, das man angestrebt hat. Das kann doch nicht so schwer sein, oder? Warum gibt es dennoch so viele Menschen mit Übergewicht?

      Ein anderes Beispiel: Denk an deine Beziehung oder, wenn du Single bist, an deine letzte Beziehung. Hast du dort erlebt, dass eine Auseinandersetzung eigentlich harmlos begonnen hat und du merkst, wie du dich innerlich ärgerst und dann Dinge sagst oder tust, von denen du genau weißt, dass sie den Streit alles andere als konstruktiv beeinflussen werden – und dann hörst du sie dich trotzdem sagen?

      Wissen und Umsetzung können also zwei sehr getrennte Dinge sein.

      Wollen wir etwas lernen, verändern oder uns eine neue Fähigkeit aneignen, dann brauchen wir ein Fundament, auf dem wir aufbauen können, damit es wirklich funktioniert. Dies ist uns nur nicht bewusst, und deshalb laufen viele unserer Bemühungen ins Leere, und wir enttäuschen uns selbst.

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      Die Quelle am Ursprung: Emotionen regulieren

      Die erste wichtige Fähigkeit für unser Lebensglück heißt Selbstregulation. Diese ist ungeheuer wichtig, weshalb es verwundert, dass die meisten Menschen noch nichts davon gehört haben. Es ist die Fähigkeit, uns innerlich so steuern zu können, dass es uns emotional und körperlich gut geht. Es ist die Grundlage eines erfüllten Lebens.

      STEUERN, WAS WIR FÜHLEN

       »Eine gute Selbstregulation und unser Lebensglück sind existenziell damit verbunden, wie wir in unserem Körper zu Hause sind.«

      Am Anfang möchten wir – bildlich gesprochen – am liebsten mit einem Motorboot über den Fluss jagen. Wir sind noch jung, haben Kraft und genügend Unwissenheit und Unerfahrenheit, um darüber hinwegzusehen (zumindest die meisten von uns), dass wir noch gar nicht die Fähigkeit dazu haben. Wir gehen unseren Weg oder den Weg, von dem wir glauben, dass wir ihn gehen müssen.

      Wir werden älter und irgendwann wird dieser Mangel vielleicht unübersehbar oder besser »unüberfühlbar«. Wir fühlen uns leer und unzufrieden oder, wie es einmal eine Seminarteilnehmerin ausdrückte: »Ich hatte alles, ich war erfolgreich, hatte eine Familie, ein Haus, ein Motorrad, und ich fühlte mich leer und arm.«

      Die Basis unseres Seins hat viel damit zu tun, wie wir aufgewachsen sind, welche traumatischen Erfahrungen wir gemacht, welche Verletzungen wir erlebt haben. Je mehr Unsicherheit und je weniger Liebe und Zuwendung uns zuteilwurde, desto anstrengender ist die Reise auf dem Fluss unseres Lebens. Wir sind ständig ängstlich, haben das Gefühl, anders zu sein, und fühlen uns nie genug.

      Leider wird uns immer noch der Eindruck vermittelt, dass dann tatsächlich etwas mit uns nicht stimmt – als ob es sonst niemandem so ginge. Und wir werden nur selten ermutigt, die Grundlage wirklich anzuschauen und die Hindernisse für unser Lebensglück aus dem Weg zu räumen. So versuchen wir verzweifelt, den Untiefen, Felsbrocken oder erschütternden Wasserfällen auszuweichen. Leider schränkt das unseren Bewegungsspielraum ziemlich ein.

      Die erste Quelle, die den Fluss unseres Lebens nährt und speist, ist also die Selbstregulation. Es ist die Fähigkeit, sich innerlich so steuern zu können, dass es uns emotional und körperlich gut geht. Sie gehört zu den notwendigen Voraussetzungen eines erfüllten Lebens. Solange wir unsere Emotionen nicht regulieren können, um diese die meiste Zeit auf einem ausgeglichenen Level zu halten, so lange können wir viele Dinge auf unserer weiteren Lebensreise nicht lernen.

      Die Fähigkeit zur Selbstregulation entsteht durch die Qualität der Bindungen in unserer frühen Kindheit und ist deshalb fundamental davon abhängig, wie gut unsere damaligen Bezugspersonen uns regulieren konnten. Konnten sie auf die Bedürfnisse des Babys eingehen? Waren sie fähig zu einer eingestimmten, harmonischen Interaktion mit dem Kind? Waren sie fähig, sich selbst emotional gut zu regulieren? Haben sie das Baby viel am Körper getragen? Waren die Bezugspersonen für das Kind sicher, oder haben sie oft unvorhersehbar reagiert?

      Wir lernen also Selbstregulation durch Bindung und Beziehung. Deswegen ist es schwer zu sagen, was als Basis an Platz eins steht. Selbstregulation und Bindungsfähigkeit sind untrennbar miteinander verbunden.

      KUSCHELN IST EIN MENSCHENRECHT

      Alles, was eine Mutter und ein Vater in diesen ersten Lebensjahren tun, beruhigt ein Kind entweder, ruft Freude und positive Erregung hervor, oder aber es wird übererregt und geängstigt. In diesen ersten Jahren können wir uns noch nicht selbst regulieren und sind deshalb von Geburt an darauf angewiesen, dass unsere Eltern das für uns übernehmen. Diese Regulation von außen nennt man Co-Regulation.

      Je sicherer die Bindung und die Qualität der Co-Regulation war, desto besser können wir als Erwachsene unsere Emotionen steuern. Das führt dazu, dass wir generell zufrieden sind mit unserem Leben, liebevolle Beziehungen pflegen, ein gutes Verhältnis zu uns selbst haben und im Allgemeinen ziemlich stressresistent sind.

      Wir brauchen jedoch auch als erwachsene Menschen immer wieder – wenn wir zu sehr in Stress geraten und uns selbst nicht mehr regulieren können – die Unterstützung und Co-Regulation von anderen. Kein Mensch ist eine Insel!

      In meiner Praxis erzählen mir viele Menschen, die schon Kontakt mit Psychotherapie oder Selbsthilfe hatten, dass ihr inneres Kind auf den Schoß möchte. Bedeutet das, dass erwachsene Menschen nie auf den Schoß wollen? Das wäre doch sehr schade! Wir alle brauchen Nähe und manchmal auch Trost. Kein Mensch kann sich immer selbst regulieren – ab und an brauchen wir jemanden, der uns dabei hilft, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

      Wir brauchen eine Umarmung, wir möchten gehalten werden oder wenigstens, dass uns jemand liebevoll zuhört. Menschen brauchen Berührung, bis sie tot sind. Und selbst beim Sterben wollen wir nicht allein sein.

      Es ist also nicht das innere Kind, sondern ein vollkommen normales Bedürfnis, Nähe und Kontakt zu spüren.

      Leider haben Menschen, die keine Partnerin oder keinen Partner haben, in unserer Gesellschaft meist überhaupt keine Chance, genügend Zuwendung und Berührung zu bekommen. Die einzige Möglichkeit dafür besteht für viele über Sexualität. Oftmals ist dies die Tauschwährung für Nähe und

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