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verspürte ich mitten in der ganzen Verzweiflung und Wut so etwas wie Hoffnung. Vielleicht hatte Luzifer mir hier ja doch noch nicht alles kaputt gemacht.

      Julian

      5 Mein unerlaubter Abgang aus der Schule hatte mir direkt eine Privataudienz bei Pfeiffer beschert. Ziemlich entspannt zauberte ich die frische Entschuldigung meiner Mutter hervor. Sie hatte mir schon mit so mancher sehr großzügigen Entschuldigung den Arsch gerettet, wie eben auch heute. Leider ließ sich Pfeiffer von den attestierten »Kreislaufbeschwerden« kein bisschen beeindrucken.

      »Na fein … dann ist ja wieder alles gut, ne?«, stellte er trocken, jedoch mit unmissverständlichem »Ich lass mich nicht für dumm verkaufen«-Blick fest.

      Ich zuckte mit den Schultern und überraschenderweise ließ er mich ohne weitere Ansprachen ziehen.

      Für die nächste Stunde stand eigentlich der Matheförderkurs bei Knöpfle auf dem Plan. Zu meiner großen Freude hielt jedoch der Pfeiffer stattdessen einen Vortrag, und zwar ausgerechnet zum Thema »Klassenzusammenhalt«.

      Erst als er auf Liza zu sprechen kam, horchte ich auf. Die zuckte schon wieder auf ihrem Platz herum, fast noch mehr als sonst. Pfeiffer meinte, sie wollte was zu ihrem Gebelle, dem Geschnalze und ihrem Gezucke sagen, und plötzlich stand sie tatsächlich auf: Sie fing einfach an, der gesamten Klasse was über ihre Tourette-Krankheit zu erzählen.

      Dass es mal besser, mal schlimmer sei, dass sie diese »Tics« zwar etwas unterdrücken könne, aber nicht auf Dauer. Sie könne das Ganze nicht wirklich steuern, fügte sie noch hinzu, gefolgt von einem lauten Bellen. Keiner wagte es, darauf zu reagieren.

      »Es ist w-w-wie ein Niesreiz. Wenn es passiert, tut es irgendwie gut, ist aber leider auch meistens ziemlich peinlich.« Prompt zuckte sie heftig, schlug sich vor die Brust und bellte wieder laut.

      »Gesundheit!«, rief Gustav lachend in den Klassenraum und löste damit mehrfaches Gekicher aus. Aber dieses Mal fing auch Liza an zu lachen, was das Ganze irgendwie … okay machte. Immerhin grinste sogar der Pfeiffer.

      »Hey, so wie jetzt … also, wenn ihr das alle einfach etwas lockerer nehmen k-k-könntet und mit mir drüber lachen, wäre das echt cool. Und …« Wieder bellte sie laut. »Ach, Shit!«

      War Shit jetzt ein Fluch oder auch irgendein Tourette-Zeug? Eigentlich auch egal.

      Liza lächelte weiter und wirkte fast ein bisschen erleichtert. Mit einem Mal sah sie nicht mehr wie ein grimmiges Rumpelstilzchen aus, sondern wandelte sich in etwas deutlich Sympathischeres. Danach wurden noch ein paar Sonderregeln vereinbart: Liza bekam zum Beispiel einen Platz an der Tür. Sie durfte jederzeit rausgehen und vor dem Gebäude bellen, pfeifen oder zucken, wenn ihr danach war – weil das dann anscheinend entspannter für sie wäre. Und ab sofort waren dumme Sprüche über ihr Tourette-Syndrom natürlich absolut tabu.

      Nach dieser netten Entspannungsphase wurde es wieder deutlich ernster, denn dann startete doch noch der Mathekurs bei Knöpfle. Dass die süßen kleinen Plus- und Minuskobolde jetzt zermetzelt auf dem Blatt ruhten, änderte meinen Stresslevel nur geringfügig. Zudem waren in meiner kleinen erlesenen Mathenietengruppe außer mir nur Leute, denen ich allesamt nicht wirklich viel zugetraut hatte, doch nun hängten selbst die mich in Mathe mal eben locker ab. Alle.

      »Alter, was hast du gemacht?«, flüsterte Tariq beeindruckt nach einem Blick auf die ermordeten Kobolde.

      »Das ist noch gar nichts«, flüsterte ich finster zurück und blickte das erste Aufgabenblatt verzweifelt an. Statt auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können, stellte ich mir in Dauerschleife abwechselnd zwei unbeantwortbare Fragen: Wofür brauche ich Kopfrechnen, wenn es doch Taschenrechner gibt? und Wieso sollte mir ausgerechnet dieser Stapel Papier dabei helfen, Mathe endlich zu kapieren, wenn in den letzten Jahren nichts geholfen hat?

      Souverän überlächelte ich mein Unverständnis und nutzte in den nächsten Minuten jede Gelegenheit, die Ergebnisse der anderen abzuschreiben, sofern wir doch mal die gleichen Arbeitsblätter hatten. Die meiste Zeit verbrachte ich jedoch mit einer alten Lieblingsbeschäftigung, dem Zahlenschänden. Einer meiner vielen Begabungen: Ich war Meister darin, mit ein paar Strichen Zahlen in hässliche Gnome, Monster oder sonstige Freaks zu verwandeln. So zeigten sie ihr wahres Gesicht und ich konnte sie deutlich besser ertragen.

      »Alter, ich krieg Trauma«, ächzte Tariq geschockt. Er hatte sich über meine Blätter gebeugt.

      Warum konnte der Typ sich nicht einfach mal auf seinen eigenen Kram konzentrieren? Demonstrativ drehte ich mich von ihm weg und vollendete mein Werk, eine Sieben in eine Schlange zu verwandeln.

      Fertig. Zufrieden zwirbelte ich ein Stück meines Blatts möglichst auffällig zu einem kunstvollen Joint. So war ich wenigstens rein optisch der schlaue Typ, der sich seine Mathezellen weggeraucht hatte, statt einfach nur der dumme. So à la irres Genie mit Kurt-Cobain-Aura. Hoffte ich jedenfalls.

      Als wir nach dem Sonderstündchen wieder zurück zu den Schlauen gingen, lösten diese gerade lässig Gleichungen und prahlten mit ihren Champion-Checker-Formeln rum.

      »Herr Pfeiffer, soll ich das jetzt mit Pythagoras machen oder doch eher mit Cosinus, damit ich weiß, was x ist?«

      Ich schielte zu Liza und war sofort ein bisschen genervt, weil sie den ganzen Mathescheiß anscheinend bestens beherrschte.

      »Schon mal dran gedacht, dass x vielleicht anonym bleiben möchte?«, warf ich beiläufig in den Raum.

      Die anderen starrten mich verwirrt an.

      »Na, so datenschutzmäßig und so«, erläuterte ich meinen Spitzengag extra langsam. »Also … x will vielleicht gar nicht, dass du weißt, wer oder was es ist?«

      Liza starrte mich böse an. Tja, humortechnisch hatten wir uns wohl noch nicht so recht gefunden.

      Vielleicht war es ganz gut, dass nun als Nächstes Deutsch bei der Knöpfle drankam – so konnten wir alle erst mal einen Gang runterschalten. Davon abgesehen war ich hier trotz des vermurksten Tests in der Expertengruppe. Eigentlich überraschte mich das, aber beschweren wollte ich mich nun auch nicht, denn für die Fördertruppe, die jetzt Pfeiffer übernahm, stand ernsthaft Groß- und Kleinschreibung auf dem Programm. Noch simpler ging es jetzt aber echt nicht. Dachte ich. Doch dann hörte ich im Rausgehen das überforderte Ächzen meiner Kollegen. Na ja – wahrscheinlich hatte ich eben in Mathe noch ähnlich gestresst vor meinen Blättern gesessen.

      »Unser heutiges Thema: Argumentieren«, begann Knöpfle unsere Deutsch-Pro-Session und klemmte sich ihren Ordner schutzschildgleich vor die Brust. »Ich möchte, dass ihr euch ein Thema überlegt, zu dem wir Pros und Kontras sammeln können.«

      Eigentlich war sie ja ganz nett, nur total unsicher. Ständig zwirbelte sie beim Reden ihre roten Locken oder knabberte zwischen den Wörtern auf ihrer Unterlippe herum, als zögere sie, die nächste Information herauszulassen.

      Max, der Punk, kippelte auf seinem Stuhl und wirkte dabei unfassbar überheblich.

      »Wie wäre es mit: Sinn und Unsinn einer Qualifizierungsmaßnahme wie dieser?«, schmiss er in den Raum, kaum, dass Knöpfle ausgeredet hatte.

      Innerlich stöhnte ich. Jedes Mal, wenn der Typ seinen Mund öffnete, hatte ich den Eindruck, dass hinter der lockeren Punkerfassade nichts weiter war als ein höllisch schlaues, aber ziemlich ätzendes Arschloch.

      »Ein … ähm … interessanter Vorschlag«, kiekste Knöpfle. »Gibt es noch andere Ideen?«

      »Sorry. Nehme meinen Vorschlag zurück«, meldete sich der Punk prompt erneut zu Wort. »Hatte vergessen, dass es ein Themenvorschlag sein soll, zu dem es auch Pros gibt.« Seine ramponierten Springerstiefel klopften einen schnellen Takt in die Stille. Eins musste ich ihm lassen. Die punktypische Leck mich-Attitüde hatte er ziemlich gut drauf. Und dann legte er unaufgefordert mit einer Abhandlung über den Unsinn solcher Maßnahmen los.

      Wir anderen glotzten ihn mit offenen Mündern an. Hatte der das vorbereitet? Das kam ähnlich professionell rüber wie schon diese

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