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Voll verkackt ist halb gewonnen. Tom Limes
Читать онлайн.Название Voll verkackt ist halb gewonnen
Год выпуска 0
isbn 9783401808277
Автор произведения Tom Limes
Жанр Учебная литература
Издательство Readbox publishing GmbH
Die Tests – Mathe, Deutsch, Englisch – waren wirklich okay. Ich war ja auch gar nicht so schlecht in der Schule, zumindest solange ich noch regelmäßig hingegangen war.
Während es um mich herum ächzte und stöhnte, löste ich den Matheteil in weniger als der Hälfte der vorgeschriebenen Zeit und konnte unauffällig die Leute beobachten, denn sie waren größtenteils so sehr im Stressmodus, dass sie um sich herum nichts mehr mitbekamen. Der Schweiger war recht eifrig, Tariq balancierte pseudocool seinen Bleistift auf einer Fingerkuppe, wirkte jedoch ziemlich nervös.
Ich ertappte den Kiffer immer wieder dabei, wie er seinerseits mich beobachtete. Er grinste charmant, leider auch verdammt breit. Sein Blatt war komplett bemalt. Die Kritzeleien sahen sogar recht kunstvoll aus, doch es sollten ja eigentlich die Lösungen der Aufgaben draufstehen und so wie der wirkte, würde er heute nichts Vernünftiges mehr zu Papier bringen. Links von mir schnieften ein paar Mädchen. Besonders theatralisch wimmerte Elvira, ein Mädchen mit blonden Ringellöckchen und Glitzerminirock. Sie schluchzte, als nahe gerade der Weltuntergang, doch da sie dabei auf ihren abgesplitterten Gelnagel blickte, vermutete ich mal, dass es ihr weniger um den Test ging.
Nachdem Luzifer sich in den letzten Minuten ziemlich still verhalten hatte, spürte ich nun jenes untrügerische Ziehen in meiner Brust, das jedem Tic vorausging. Ich versuchte, es wegzudrängen, doch es hatte keinen Zweck, denn das Tourette-Syndrom kämpft immer um sein Recht und irgendwann kracht es dann so aus dir heraus, als hätten sich alle unterbundenen Tics zusammengetan. Und egal wann das passierte, dieser Moment war in meinen Augen niemals passend.
Jetzt war einer dieser unpassenden Momente: Für jeden anderen im Raum völlig unvermittelt erwachte Luzifer zum Leben. Ein Kläffen entwich meiner Kehle, gefolgt von einem zweiten und dritten, und prompt saß die Hälfte der Klasse senkrecht und kurz vorm Herzinfarkt auf den Stühlen.
Alle starrten mich an, als hätte ich völlig den Verstand verloren.
»Boah, Alte«, zischte dieser beschränkte Skinheadtyp, der in der Einführungsveranstaltung neben mir gesessen hatte. »Du gehörst echt in die Klapse, ey!« Zustimmendes Gemurmel brandete auf. »Ab in die Psychiatrie!«
Ein paar Reihen vor mir näherte sich ein blasses Mädchen zögernd ihrem Banknachbarn und versuchte doch tatsächlich, ihr Gesicht hinter einem Taschentuch zu verstecken. »Ist das ansteckend?«, flüsterte sie etwas zu laut. Die alten Erinnerungen an ähnliche Erlebnisse klopften an und ich presste die Augenlider aufeinander, um nicht auch noch vor allen in Tränen auszubrechen.
»Genauso wenig wie deine Dummheit«, antwortete jemand genervt. Die Neugier öffnete mir gegen meinen Willen einen Spaltbreit die Augen. Anscheinend kam der Kommentar von dem Typ neben dem Mädchen, denn sie schaute ihn irritiert an. Er sah ziemlich krass aus. Stoppelhaare, etliche Ohrringe, Löcherpulli, abgeschnittene, zerrissene Hose und Springerstiefel. Vielleicht so eine Art Kurzhaarpunk? Zumindest deuteten die ganzen gekritzelten Anarcho- und Antinazisprüche auf seinem Rucksack darauf hin.
»Schon mal was von Tourette gehört?«, fragte er und ahmte ihren dumpf glotzenden Blick originalgetreu nach. »Tourette-Syndrom? Neuropsychiatrische Erkrankung? Tics?«, konkretisierte er ungeduldig mit schief gelegtem Kopf. »Na …? Klingelt da was?« Sein Zeigefinger umkreiste seine Schläfe, als könne er auf diese Weise ihre Hirnströme ankurbeln, doch seine nervöse Banknachbarin wandte sich nur ruckartig von ihm ab und stierte, die Lippen zum Schmollmund gespitzt, in eine andere Richtung.
»Ruhe bitte …«, schaltete sich nun Frau Knöpfle wieder zaghaft ein.
»Rede einfach nicht mehr so einen Scheiß daher«, schnaubte der Punk, ohne den Blick von dem Mädchen abzuwenden. Frau Knöpfle ignorierte er. »Ich kann es nämlich gar nicht leiden, wenn Leute null Ahnung haben, aber einfach mal das Maul aufreißen. Kapiert?«
Auf das Lehrerpult krachte wieder mal der Schlüsselbund. »Max? Möchtest du gerne eine Frage stellen?«
Punk Max hob die Hände minimal zu einer Entschuldigungsgeste, die eigentlich keine war, blickte dann auf seine bereits fertig ausgefüllten Testblätter und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch.
Ich seufzte leise. Es war, als wollte Luzifer meinen neuen Klassenkameraden direkt zum Start klarmachen, was für ein Freak ich war.
Und ja, ich weiß, dass ich so nicht denken sollte. Meine Mutter würde ausflippen. Für sie war ich ein ganz normales Mädchen.
Aber was hieß bei uns zu Hause schon normal? Meine Ma war Performancekünstlerin mit Schwerpunkt auf tänzerisch interpretierten Lautgedichten! Und ihr Langzeitfreund, der sich selbst ernsthaft Digga nannte, davon abgesehen aber mehr als okay war, na ja, der war ein langsam alternder Rockgitarrist mit reichlich Träumen, wenigen Gigs und jeder Menge allmählich verblassender Tattoos. Die beiden waren also echt alles andere als normal. Und wenn in unserer kleinen Hinterhofwohnung links nebenan Digga seine Gitarre johlen ließ und auf der anderen Seite Ma ihre Lautgedichte stammelte, dann fiel Luzifer eben wirklich kaum noch auf.
Und ja, ich weiß, dass ich so nicht denken sollte. Hier allerdings … ich sah mich unauffällig im Klassenraum um. Hier fiel er auf.
Andererseits – es gab auch was Gutes. Ich blickte kurz zum Schlabberklamottenkiffer. Dann zu diesem Max. Beide hatten sich … für mich eingesetzt.
Julian
3 Nach den gestrigen Erfahrungen gönnte ich meinem Wecker und damit mir erst mal dreißig Minuten Zeitzugabe. Prompt platzte ich dieses Mal in einen vollen, aber mucksmäuschenstillen Unterrichtsraum und rauschte fast in einen riesigen Kerl hinein, der an der Tafel stand und anscheinend einen Vortrag hielt.
Ich bremste mitten in der Bewegung ab und glotzte den Typen an, der locker zwei Meter groß war, Unterarme hatte, die meinen Oberschenkeln Konkurrenz machten, und ein Kreuz, hinter dem ich mich zweimal hätte verstecken können. Mit seinen Tattoos, den Ohrringen und dem Kopftuch wirkte er wie ein Schwerverbrecher auf Hafturlaub. Hatte ich da gestern irgendwas verpasst? Was hatte der mit Knöpfle gemacht?
»Willst du ’ne Rede halten oder warum setzt du dich nicht?«, wandte sich der Riese mit tiefer Stimme an mich.
»Äh … ich …«, setzte ich an, brach jedoch sofort wieder ab, als er schweigend eine Augenbraue hob und mit dem Kinn zu einem freien Stuhl deutete.
Automatisch schlüpfte ich in so eine dämliche unterwürfige Buckelfigur, schob mich hin zu meinem Platz und kassierte neben einigen gehässigen Grinsern auch noch einen Tadelblick von meiner speziellen, auch heute schwarz gekleideten Freundin … Liza. So hieß sie laut dem Namensschild, das heute alle vor sich auf den Tisch gelegt hatten, wie ich nun registrierte. Flott beschriftete ich ebenfalls ein Blatt aus meiner Kladde.
»Also, ich denke, ihr habt mich verstanden«, setzte Mr Easy Rider seinen Vortrag fort. »Für die ganze Zeit hier gilt: Wenn ihr was braucht, kommt zu Marlen, Hugo oder mir, wir sind für euch da. Wofür wir jedoch nicht da sind, ist, euch den Arsch nachzutragen.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass einen halben Meter unter dem Rockerschädel Knöpfles Rotschopf hervorlugte. Ich hatte sie bloß nicht gesehen. Und neben dem Riesen selbst stand ein Name an die Tafel geschrieben: Til Pfeiffer.
»Ob ihr das Ganze total lächerlich findet, Bock auf die Nummer hier habt oder nicht, ist euer Ding«, fuhr der Riese namens Pfeiffer fort. »Wir haben ein ziemlich cooles Angebot für euch, also nutzt die Chancen, die ihr jetzt bekommt. Aber letztendlich liegt es in eurer Hand. Wenn wir nachmittags nach Hause düsen, haben wir unsere Kohle auf jeden Fall eingefahren, egal, ob ihr was mitgenommen habt oder nicht.«
Moment, das hörte sich aber jetzt irgendwie nicht so prickelnd an und auch Gangster Tariq schaute irritiert zu Pfeiffer. Da vorn standen schließlich unsere Betreuer! Die mussten sich doch um uns kümmern, oder nicht? Andererseits … das klang auch ein bisschen nach In-Ruhe-gelassen-Werden und Abhängen-ohne-Stress und die einzige Voraussetzung, dass meine